11. Juni 2019

HNO-Kongress 2019: „CI-Patienten werden künftig alles über die App regeln“

 

Zu ihrer bereits 90. Jahresversammlung kam die traditionsreiche Deutsche Gesellschaft für Hals-, Nasen-, Ohrenkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC) in Berlin zusammen – und warf dabei einen Blick in die Zukunft. „Digitalisierung in der HNO-Heilkunde“ war das leitende Thema der viertägigen Veranstaltung in Berlin.

„Werden Ärzte noch gebraucht?“, fragte Kongresspräsident Stefan Dazert (Uniklinik Bochum) in seiner Eröffnungsrede – und gab auch gleich die Antwort: Oh ja, aber in einer geänderten Rolle. 


Wie diese Rolle in Zukunft aussehen könnte, darüber tauschten sich die Teilnehmer des HNO-Kongresses 2019 Ende Mai im Berliner Estrel-Hotel aus. Immer mehr Patienten wünschten sich heute die „aktive Selbstbefähigung“ bei Diagnose und Behandlung, sagte Dazert. Die Digitalisierung eröffne hier viele Möglichkeiten, gerade auch in der Hör-Rehabilitation. Und auch dem Arzt böten große, leicht verfügbare Datenmengen, algorithmisch ausgewertet, eine wichtige Entscheidungshilfe.

„Es besteht kein Anlass, sich vor dem Computer zu fürchten“, betonte Dazert. Je größer die Rolle von Daten werde, umso wichtiger sei es aber für den Arzt, auch über kommunikative Fähigkeiten zu verfügen, um dem Patienten „mit seiner Psyche, seinen Sorgen und Nöten“ gerecht zu werden, mahnte Dazert. Diese menschliche Fähigkeit zur Empathie könne „durch keinen Algorithmus ersetzt“ werden.

Das Leitthema Digitalisierung war zugleich als Appell zu verstehen, denn: „Im internationalen Vergleich liegen deutsche Gesundheitseinrichtungen im Hinblick auf digitale Entwicklungen eher auf hinteren Rängen“, sagte der Kongresspräsident. Unmittelbare Anstrengungen seien „zwingend erforderlich“. Dass die digitale Datenhaltung einer besseren Qualitätskontrolle dienen kann, machte Dazert am Beispiel des geplanten nationalen CI-Registers deutlich, dessen Einführung für die HNO-Heilkunde „hohe Priorität“ habe. Mithilfe des Registers sollen unter anderem die Wirksamkeit von Versorgungsroutinen evaluiert, Mindestmengenforschung betrieben und die Qualitätsverbesserung unterstützt werden. Eine Struktur dafür hat die HNO-Gesellschaft im 2018 veröffentlichten Weißbuch vorgeschlagen.

Klingende Daten
„Register stellen eine große Chance für die Zukunft dar“, sagte auch Sebastian Schraven. Der stellvertretende Klinikdirektor der Uniklinik Rostock sieht den größten Mehrwert von Registerbildungen in der Versorgungsqualität. „Nur so können wir in Zukunft unsere Therapien gegenüber den Krankenkassen behaupten.“ Die HNO-Heilkunde habe bislang wenig Berührungspunkte zu Registern, was sich mit dem CI-Register nun ändern soll. Zugleich warnte Schraven vor Parallelstrukturen, da es aktuell keine Zusammenfassung bestehender Register gebe. Zu den Datenschutzauflagen sagte Schraven: „Das ist ein hehres Ziel. Wir müssen die Daten schützen, aber wir übertreiben es.“ Sein Eindruck sei, dass dies in der Politik allmählich begriffen werde.

Die multidisziplinäre Zusammenarbeit und das Auswerten von mehreren Datenmengen im Sinne von Big Data ist unter anderem bei der Diagnostik genetischer Schwerhörigkeit essentiell, wie Barbara Vona aus Tübingen deutlich machte. 150 Gene seien inzwischen bekannt, die an Formen des Hörverlusts beteiligt sind. Dabei lasse die genetische Diagnostik sogar eine Prognose de CI-Outcomes zu, so Vona.

Daten geben jedoch nicht nur Auskunft, sie können auch klingen, wie Thomas Hermann aus Bielefeld in seinem Festvortrag über die „Sonifikation als Digitalisierungsperspektive“ deutlich machte. Und das ist mehr als eine Spielerei: Denn Menschen können in Töne übersetzte Datenmengen schneller in ihrem Sinngehalt erfassen als in Form von Zeichenreihungen. Unter Hinweis auf die permanente Aufmerksamkeit des menschlichen Gehörs („Wir haben keine Ohrenlider“) präsentierte er dafür verblüffende Klangbeispiele. Jeder gelernte Alarmton ist schließlich Ergebnis der Sonifikation einer Nachricht.

„Only the fittest survive“

Wie die Hör-Versorgung im Zeitalter der Digitalisierung aussieht und wohin die Tendenzen gehen, fasste Heidi Olze aus Berlin (Charité) zusammen. In Anbetracht der lebenslangen Nachsorge bei gleichzeitiger Einhaltung der hohen Standards, wie sie in den CI-Leitlinien festgeschrieben sind, sieht Olze in der Digitalisierung passende Lösungsansätze. Patienten seien durch das Internet schon heute informierter. Gesundheitsapps und digitale Screenings könnten zudem in der präoperativen Phase unterstützen. Außerdem hilft 3D-Software inzwischen bei der individuell angepassten OP-Planung (via Otoplan), intra-operative audiologische Messungen geben schon während der Elektrodeneinführung Rückmeldung und ermöglichen eine optimierte Positionierung der Elektrode.

Die Digitalisierung ermögliche zudem eine vereinfachte Soundprozessor-Anpassung, indem die Testergebnisse mit bestehenden MAPs verglichen werden (via FOX). „Only the fittest survive“, nannte Olze das Prinzip.

Dank Remote und Self Fitting sei die Nachsorge auch aus der Ferne möglich „Die Zukunft wird, glaube ich, so aussehen, dass die Patienten alles über die App regeln“, sagte Olze. „Sie werden nur noch in die Klinik kommen, wenn es Probleme gibt.“ Dies gelte natürlich nicht für alle Patienten, schränkte die HNO-Ärztin ein.

Future of Hearing Rehabilitation
Einen Blick in die Zukunft warfen am letzten Kongresstag zu früher Stunde auch die Teilnehmer des Internationalen Forums „Future of Hearing Rehabilitation“. Andreas Büchner (MHH) berichtete von den Erfahrungen mit Remote Fitting basierend auf den Daten von 800 Patienten. Seine Prognose: „Die strikte Zentralisierung der CI-Nachsorge wird nicht überleben.“

Paul Govaerts (Antwerpen) sieht mit dem Einbinden künstlicher Intelligenz in die CI-Versorgung gar die Möglichkeit gegeben, selbst die Erstanpassung den Patienten zu überlassen. Allerdings nicht in unmittelbarer Zukunft: „Das menschliche Gesicht ist ein zentraler Faktor“, hob Govaerts die Bedeutung der persönlichen Versorgung hervor.

Wolf-Dieter Baumgartner (Wien) wiederum berichtete von Forschungen in der Gentherapie zur Behandlung von plötzlichem Hörverlust. „Wir sind immer noch dabei zu lernen, wie das Hören wirklich funktioniert.“ Ein Problem aber sei, dass Hörbehinderungen nicht auf dem ökonomischen Radar seien – weder auf dem Radar der Politiker noch der pharmazeutischen Unternehmen. Dadurch fehle Geld für die sehr teure Forschung.

Neben allen Blicken in die Zukunft wurden auch aktuelle Themen besprochen:

In einer retrospektiven Studie untersuchte Anke Lesinski-Schiedat (MHH), ob und inwieweit auch Kinder tauber oder nahezu ertaubter Eltern zum Lautspracherwerb gelangen können. Die Auswertung der Daten von 36 Patienten lege nahe: Ja, das können sie, aber Voraussetzung dafür seien eine „sehr gute prä-operative Vertrauen schaffende Beratung der Eltern“, unter Hinzuziehung eines verlässlichen Gebärdendolmetschers, sowie der Kontakt zu lautsprachlichen Großeltern oder Nachbarn. Man müsse Brücken bauen, um Sprachbarrieren zu überwinden.

Heidi Olze widmete sich den älteren Patienten und präsentierte Daten, die eindrücklich belegen, dass und wie bei Patienten über 70 Jahre – die immerhin 25 Prozent der CI-Patienten ausmachen – nach einer erfolgreichen CI-Versorgung Ängstlichkeit, Stress und Depressivität einer deutlich gesteigerten Lebensfreude Platz machten. Zwei Jahre nach der CI-OP sei oft auch eine signifikante Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses zu registrieren. Voraussetzung für optimale Reha-Erfolge sei allerdings ein „personalisiertes Therapiekonzept“.

Silke Helbig, Frankfurt, wiederum ist der Frage nachgegangen, wie oft sich Spitzen von CI-Elektroden bei der Insertion in die Cochlea verbiegen („tip fold-over“), so dass die Insertion wiederholt oder die Elektrode gar ausgetaucht werden muss. Das war bei 1535 untersuchten Patienten 17 mal der Fall (in 0,81 % der Insertionen). Die Gefahr steige, je dünner die Elektrode sei.

Thomas Zahnert, Professor in Dresden und Vorsitzender der Audiologen-Vereinigung in der HNO-Gesellschaft (ADANO), gab einen Einblick in die künftige Neufassung der wissenschaftlichen Leitlinien zur CI-Versorgung. Eine Arbeitsgruppe unter seiner Leitung habe in fünf Konsens-Sitzungen und dank 147 Abstimmungen ein jetzt gut 70-seitiges Papier angefertigt, das sich gegenwärtig in der redaktionellen Schluss-Abstimmung befinde. Darin werde nicht nur die Folgetherapie (Reha) differenziert beschrieben, sondern nunmehr auch eine Indikation zur CI-Versorgung nach langjähriger Ertaubung ausgesprochen. Nicht zuletzt werde in den neuen Leitlinien erstmals die Rolle qualifizierter Hörakustiker in der CI-Beratung und -Nachsorge beschrieben und gewürdigt.

Auch das Thema MRT mit CI, das die DCIG mit ihrer Aktion „Dialog auf Augenhöhe – Patienten befragen Radiologen“ im vergangenen Jahr vorangebracht hatte, war auf dem Kongress mit einem eigenen Programmpunkt präsent. Denn „Kongresse sind ja nicht nur dazu da, sich gegenseitig auf die Schulter zu hauen und sich zu sagen, wie toll man ist, sondern auch dazu, um Probleme anzusprechen und zu diskutieren“, sagte Timo Stöver (Frankfurt/Main).

Benjamin Bender (Tübingen) berichtete von den Erfahrungen aus der Neuroradiologie und den Tücken des teils notwendigen Kopfverbandes: „Ganz problematisch sind Patienten mit zwei CI.“ Die Hersteller hätten das Problem aber erkannt und zum Teil bewegliche Magnete auf den Markt gebracht. Gleichwohl tragen viele Patienten noch alte Implantate. In Anbetracht steigender MRT-Untersuchungen hat sich Stöver deshalb neun Magnetdislokationen nach MRT genauer angeschaut. Bei dreien waren keine Schutzmaßnahmen durchgeführt worden, wobei es auch mit Kopfverband zu mindestens einer Dislokation kam. Im Schnitt kam es zu vier Wochen Ausfallzeit, was potentiell medizinische, soziale und ökonomische Folgen habe.

Albrecht Linke (ebenfalls Frankfurt) stellte zudem eine Erhebung via Fragebogen vor. Bei 17 von 130 befragten Patienten wurde ein MRT durchgeführt. 7 Patienten berichteten dabei von Schmerzen, unabhängig davon, ob das MRT mit oder ohne Kopfverband durchgeführt wurde. Bei drei der Patienten kam es zu einer Magnetdislokation. Sein Fazit: „Auch wenn man alle Regeln beachtet, kann ein Problem auftauchen.“

An mehreren Kliniken wird deshalb derzeit erforscht, welche Implantat-Eigenschaften und Präventionsmaßnahmen Risiken minimieren können. Dass das Thema in der Forschung angekommen ist, ist aus Patientensicht erfreulich. Insbesondere Linkes Forderungen nach einem standardisierten Vorgehen sowie einem Austausch zwischen HNO-Klinik, indikationsstellendem Arzt und Radiologen sind zu begrüßen. Im CI-Register müssten Komplikationen zudem strukturiert erfasst werden, so Linke.

Auch im kommenden Jahr wird die DGHNO-KHC wieder in Berlin zusammenfinden, dann mit neuem Präsidenten. In der Mitgliederversammlung wurde erwartungsgemäß Andreas Dietz, Professor und Chef der dortigen HNO-Uniklinik in Leipzig, zum Nachfolger Dazerts gewählt. 

Text und Fotos: uk/ms

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