3. Dezember 2024
Höranstrengung messen und mindern
Ein geselliger Abend im Restaurant, eine große Familienfeier oder ein Ausflug zum Stadtfest: Jeder kennt das Gefühl, dass Gespräche in lauten Umgebungen anstrengender sind als in ruhigen. Je größer der Hörverlust, desto ausgeprägter die sogenannte „Höranstrengung“. Hörsysteme sollen diese Anstrengung reduzieren. Aber tun sie das tatsächlich?
Was ist Höranstrengung?
Höranstrengung bezeichnet die Mühe, Sprachsignale in geräuschvollen Umgebungen zu verstehen, also Gesprächen auch in lauten Umgebungen folgen zu können. Sie ist der Preis für das Verstehen und wird im Moment, nicht im Anschluss, wahrgenommen. Höranstrengung tritt vermehrt auf, wenn die Sprachlautstärke höher ist als die der Umgebungsgeräusche. Obwohl eine hohe Sprachverständlichkeit erreicht werden kann, berichten vor allem Hörgeschädigte, dass dies mit erheblicher Anstrengung verbunden ist. 100 Prozent Sprachverstehen bedeutet nicht, dass man sich dafür nicht auch anstrengen musste.
Die Rolle der kognitiven Ressourcen
Stellen wir uns vor, Menschen haben nur eine begrenzte Menge an kognitiven Ressourcen, wie ein Gefäß mit bestimmter Kapazität. Wenn das Zuhören einfach ist, bleibt in diesem Gefäß noch viel Platz frei. Man kann nebenbei andere Aufgaben erledigen, wie Notizen machen. Ein einfaches Beispiel wäre das Ansehen eines Films in der Muttersprache, während man Nachrichten auf dem Handy schreibt. Anders verhält es sich, wenn das Zuhören schwierig ist. Dann beansprucht das Zuhören fast alle kognitiven Ressourcen, sodass kaum noch Kapazität für andere Tätigkeiten übrig bleibt. Ein anschauliches Beispiel ist das Ansehen eines Films in einer Fremdsprache, die man nicht perfekt beherrscht. Um den Inhalt vollständig zu erfassen, muss man sich so stark konzentrieren, dass man pausieren muss, um eine Nachricht zu schreiben. Wenn das Zuhören mehr kognitive Ressourcen erfordert, als man zur Verfügung hat, neigt man dazu, abzuschalten. Dies ist ein normaler Vorgang, der nicht nur bei Menschen mit Hörproblemen auftritt, sondern auch bei Normalhörenden.
„Mein Tipp: Notieren Sie sich, wann und nach welchen Ereignissen Sie eine besondere Hörermüdung erlebt haben, und nehmen Sie Ihre Notizen mit zur nächsten Hörsystemanpassung. Wie geht es Ihnen am Ende eines Tages? Wenn Sie die Erfahrungen der Hörermüdung aktiv beim Akustiker und Audiologen ansprechen, können diese bei der Hörsystemanpassung konkret darauf eingehen und nach einem passenden Programm für Ihr Hörerleben suchen.“
Messung der Höranstrengung
Höranstrengung kann mit verschiedenen Methoden gemessen werden. Zu den objektiven Messungen zählen physiologische Methoden wie Pupillometrie (Messung der Pupillengröße), Elektroenzephalographie (EEG) und funktionelle Bildgebung, die Hinweise auf die kognitive Belastung und Höranstrengung geben. Diese sind jedoch aufwändig und können nicht im Hörakustikfachgeschäft durchgeführt werden. Zudem spielt die subjektive, die selbst wahrgenommene Höranstrengung – das Bauchgefühl – bei der Auswahl, Akzeptanz und Zufriedenheit mit dem Hörsystem eine wichtige Rolle. Neben klassischen Fragebögen ist die im Hörzentrum Oldenburg entwickelte Skalierungsmethode „ACALES: Adaptive CAtegorical Listening Effort Scaling“ eine etablierte Möglichkeit.
Adaptive kategoriale Höranstrengungsskalierung (ACALES)
ACALES ist ein Sprachtest mit Störgeräusch, bei dem die subjektiv empfundene Höranstrengung mittels einer 14-stufigen Skala bewertet wird. Diese Skala umfasst acht beschriftete Kategorien (von „mühelos“ bis „extrem anstrengend“ und „nur Störgeräusch“) und sechs Zwischenkategorien.
Der Abstand zwischen Sprache und Störgeräusch wird während der Messung nach jeder Bewertung automatisch angepasst. Dies ermöglicht eine präzisere und individuellere Bestimmung der Höranstrengung. Besonders in Bereichen, in denen Messungen der Sprachverständlichkeit keine Unterschiede mehr ermitteln können, zeigt ACALES seine Stärken. Auch wenn die Sprache im Verhältnis zum Hintergrundgeräusch lauter wird und man gefühlt mehr versteht, bleibt die Sprachverständlichkeit beim Maximalwert von 100 Prozent. Die Höranstrengung sinkt jedoch weiter.
Patienten bewerten das Gehörte per Smartphone oder Tablet. Foto: Hörzentrum Oldenburg gGmbH
Der Clou der ACALES-Messung: Ein unerwünschter Lern- oder Gewöhnungseffekt ist aufgrund der individuellen Anpassung des Sprach- und Störlärmpegels ausgeschlossen. Der Test kann beliebig oft wiederholt werden, um unterschiedliche Hörsysteme und Einstellungen zu vergleichen. So erhält man stets ein konkretes Ergebnis, wie stark die Anstrengung beim Verstehen mit dem Hörsystem und der jeweiligen Einstellung ist.
Mit ACALES gibt es damit endlich ein Messverfahren, das ein Bauchgefühl messbar macht. Das erleichtert Betroffenen und Hörakustikern die Kommunikation über dieses wichtige Thema erheblich. Auch die Auswahl von Hörsystemen und die Bewertung der Feineinstellungen kann mit ACALES in einer neuen Qualität erfolgen.
Einfluss der Hörgeräteversorgung auf die Höranstrengung
In Studien des Hörzentrums Oldenburg wurde ACALES mit jungen Normalhörenden und älteren Hörgeräteträgern getestet. Bei den Hörgeräteträgern zeigte sich im Durchschnitt eine reduzierte Höranstrengung durch die Nutzung der Geräte. Die Reduktion der Höranstrengung ist nicht nur für das Hören selbst wichtig, sondern auch für die mentale Gesundheit. Dauerhafte Höranstrengung kann zu Stress, Erschöpfung und sogar zu kognitiven Beeinträchtigungen führen. Eine präzise Anpassung der Hörgeräte kann diese Belastungen mindern und somit die Lebensqualität erheblich verbessern. Keiner möchte sich mehr anstrengen als nötig, um gut verstehen zu können. Akustiker können durch die Anwendung von ACALES die individuell optimale Versorgung und Einstellung der Hörgeräte ermitteln. Dies trägt maßgeblich dazu bei, die Höranstrengung zu reduzieren. Durch gezielte Anpassungen und Feineinstellungen können Akustiker sicherstellen, dass ihre Kunden die bestmögliche Unterstützung erhalten.
Das ACALES-Verfahren ist inzwischen sowohl als eigenständige Version auf der Hörzentrum-Homepage als auch über das Aurelia-System von Audiosus verfügbar und wird in zahlreichen wissenschaftlichen Studien genutzt.
Dr. Melanie Krüger (Hörzentrum Oldenburg gGmbH)
Dr. Melanie Krüger promovierte 2023 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zum Thema Höranstrengung. Seit Januar 2023 leitet sie die Abteilung Marketing & Innovation im Hörzentrum Oldenburg gGmbH. Als sowohl handwerklich ausgebildete Hörakustikerin als auch wissenschaftlich versierte Hörforscherin ist es ihr ein besonderes Anliegen, die praktische Erfahrung in der individuellen Hörversorgung mit der wissenschaftlichen Erforschung von Hörproblemen und deren optimaler Behandlung zu verbinden.
Zurück