12. Dezember 2022

Das Usher-Syndrom

Das Usher-Syndrom ist eine der häufigsten genetisch hervorgerufenen Ursachen für eine erworbene Hörsehbehinderung wie die Taubblindheit. 

Professor Doktor Andrea Wanka

Es gibt verschiedene Formen von Taubblindheit und Hörsehbehinderung und ebenso unterschiedliche Möglichkeiten der Differenzierung. Eine greift auf den Eintrittszeitpunkt zurück und untergliedert die Gruppe in Menschen mit angeborener, erworbener oder altersbedingter Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Es wird autosomal-rezessiv vererbt, also beide Eltern geben das defekte Usher-Gen an ihr Kind weiter. Der Grad der Hörbehinderung ist ausschlaggebend dafür, in welche der drei Subtypen die Betroffenen unterteilt werden:

Usher-Syndrom Typ I

Das Usher-Syndrom Typ I geht mit einer angeborenen Gehörlosigkeit, Gleichgewichtsstörungen und einer bereits in der Kindheit einsetzenden Retinitis pigmentosa (RP) einher, hierbei kommt es mit der Zeit zu einer Netzhautdegeneration, bei der die Fotorezeptoren zerstört werden. 

Usher-Syndrom Typ II

Bei der häufigsten Form des Usher-Syndroms, dem Typ II, ist die Schwerhörigkeit meist hochgradig. In der Regel beginnt die RP später als dies beim Typ I der Fall ist. 

Usher Syndrom Typ III

Die seltenste und bislang nur in Finnland nachgewiesene Form ist das Usher-Syndrom Typ III. Bei ihr beginnt die RP vergleichbar mit Typ II, die angeborene Schwerhörigkeit nimmt jedoch zu, bis es im Erwachsenenalter zu einer Gehörlosigkeit kommen kann.

Schätzungsweise 0,01 Prozent der Deutschen sind betroffen

Sinneseindrücke in den ersten Lebensjahren

Es mag sonderbar erscheinen, dass eine von Geburt an vorliegende Erkrankung als erworbene Behinderung eingeordnet wird. Wir gehen hier jedoch nicht vom genotypischen Vorliegen, sondern vom phänotypischen Dasein der Behinderung aus. Der wichtigste Unterschied zwischen Menschen mit erworbener Taubblindheit/Hörsehbehinderung, wie dem Usher-Syndrom, und Menschen mit angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung, wie beispielsweise dem Charge-Syndrom, ist, dass Usher-Betroffene uneingeschränkte Sinneseindrücke durch das Sehen in den ersten Lebensjahren erlangen können. So kann eine Vorstellung von der Welt entwickelt werden, da diese unter anderem auf dem Sehsinn basiert. Eintrittszeitpunkt und Eintrittsreihenfolge sind ebenfalls bedeutsam. Bei Usher tritt zuerst die Hör- und dann die Sehbehinderung auf. Dies ist für die Kompetenzen, aber auch für den Mutterspracherwerb (gebärden- oder lautsprachlich) entscheidend. Nimmt der Sehsinn ab, ist somit auch der Zugang zum Mundbild eingeschränkt.

Keine belastbaren Zahlen zur Häufigkeit

Wie viele Menschen mit Usher-Syndrom es gibt, ist unklar. Schätzungen aus Skandinavien und den USA gehen von 3 bis 4,4 Personen je 100.000 der Gesamtbevölkerung aus. Nimmt man die Gesamtanzahl von Menschen mit RP, schwankt der Prozentsatz zwischen 9 und 33,3 Prozent. Betrachtet man gehörlos geborene Menschen schwankt er zwischen 0,6 und 28 Prozent. Demnach verfügen wir aktuell nicht über belastbare Zahlen. 2002 gab es eine Studie von Spandau und Rohrschneider im Raum Heidelberg und Mannheim, die auf eine maximale Häufigkeit von 6,2 auf 100.000 Personen verwies. Das ergäbe, bei einer Hochrechnung auf die gesamte Bundesrepublik, eine Schätzung von 6000 Betroffenen in Deutschland. Auch wenn die Zahlen nicht belastbar sind, weisen sie doch deutlich darauf hin, dass eine hohe Bewusstheit für das Vorhandensein des Usher-Syndroms vorhanden sein sollte. Insbesondere bei der Hörgeschädigtenpädagogik sowie in der Frühförderung, im Sonderpädagogischen Dienst und an spezifischen Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren sollten Kenntnisse über dieses Krankheitsbild vorliegen.

Möglichkeiten der Unterstützung

Wichtige Schlagworte im Kontext des Usher-Syndroms sind die Möglichkeiten einer frühen Diagnose. Es ist sinnvoll, eine taubblindenpädagogische Beratung und Begleitung in Anspruch zu nehmen. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass ein vom Usher-Syndrom betroffener Mensch und das ihn umgebende Umfeld in der Identitätskonstruktion in der Regel, wenn überhaupt, „hörbehindert“ oder „gehörlos“ wahrnehmen, die Begrifflichkeiten „taubblind“ und „hörsehbehindert“ jedoch – nachvollziehbarerweise – nicht, da die Sehbehinderung erst zu einem späteren Zeitpunkt eintritt. Dies gilt es zu berücksichtigen. Weitere relevante und oft nicht adressierte Themen sind der Zugriff auf Taubblindenassistenz, die Möglichkeit eines taubblindenspezifischen Orientierungs- und Mobilitätstrainings sowie einer spezifischen Rehabilitation und der Zugang zur Selbsthilfe durch Vereine für Betroffene. Außerdem gibt es die Variante des taktilen Gebärdens, das insbesondere für gehörlos geborene Menschen und demnach besonders für Menschen mit Usher-Syndrom Typ I, von Bedeutung ist. 

Prof. Dr. Andrea Wanka

Vita: Andrea Wanka, Prof. Dr. ist seit 2008 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Nachdem sie die ersten drei Jahre mittels einer Stiftungsprofessur der Friede-Springer-Stiftung das besondere Erweiterungsfach Taubblindenpädagogik aufgebaut hat, übernahm sie 2021 die Professur für Bildung und (Früh-)Förderung bei schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen, die sowohl das besondere Erweiterungsfach Taubblindenpädagogik als auch den Bereich Frühpädagogik mit einem Schwerpunkt auf komplexe Behinderung umfasst. Zuvor arbeitete sie in der Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn.

 

 

 

 


Zurück