9. Juli 2018
„Liebe sei Tat!“
„150 Jahre dazugehören“: Aus einer württembergischen Taubstummenanstalt ist ein weithin geachtetes „Bildungs- und Beratungszentrum Hören und Kommunikation“ geworden. Die St. Josef Schule für Hörgeschädigte in Schwäbisch-Gmünd feierte am 6. Juli 2018 ihr 150-jähriges Bestehen. Annette Schavan plädierte als Festrednerin im Interesse echter Inklusion für mehr und nicht weniger Sonderpädagogik.
Wir dokumentieren das Ereignis in einem Bilderbogen.
Annette Schavan.
Das Logo zu 150 Jahre.
„Liebe sei Tat!“
Die St. Josef Schule für Hörgeschädigte in Schwäbisch-Gmünd feierte am 6. Juli 2018 ihr 150-jähriges Bestehen. „Man spürt schon den guten Geist, wenn man hier hereinkommt“, brachte der Landrat des Ostalbkreises, Klaus Pavel (CDU), seinen Respekt zum Ausdruck – vor Schulleitung, Kollegium, Ordensschwestern – und nicht zuletzt den 307 Schülerinnen und Schülern.
Der Schulbau, gleich neben der Altstadt, wurde vielfach erweitert und erneuert. Landrat Pavel sagte, St. Josef sei dem Steuerzahler „lieb --- und teuer“.
Schülerinnen und Schüler hatten aus Anlass des Jubiläums ein Musical inszeniert und dafür auch schon mal in der Aula übernachtet. Die Handlung des Singspiels dreht sich um das Leben des heiligen Vinzenz von Paul, den Namenspatron der Schule und des Ordens, dessen „Barmherzige Schwestern“ die Schule 1868 als Teil der „Württembergischen Taubstummenanstalt“ aufgebaut haben.
Fotos rufen sehr verschiedene pädagogische Konzepte wach.
Das Vinzenz-Musical: Der begabte Bauernsohn wird mit 19 Jahren zum Priester geweiht.
In der Rahmenhandlung des Musicals sollen sich Schülerinnen mit dem Leben des Heiligen beschäftigen – was sie zunächst langweilig finden.
Vinzenz de Paul (1581-1660) wandelte sich vom Pfründengenießer zum Fürsprecher der Armen und Kranken. Seine Aufforderung: „Liebe sei Tat!“ wurde zum Motto eines Frauenordens, der Vinzentinerinnen.
Schülerinnen und Schüler haben das Motto auf Bildern und T-Shirts „unters Volk“ gebracht.
Vinzenz wird versklavt und kann sich befreien. Er lernt Luxus und Elend kennen.
Die Schauspiel-Amateure lockerten mit scheinbar spontanen Einlagen auch den Reigen der Jubiläums-Grußworte auf: „Schau, da sitzen viele, viele Chefs in der ersten Reihe!“ „Und viele andere wichtige Leute!“ „Ich habe gehört, dass sogar jemand Heiliges aus Rom gekommen ist.“
Als „heilig“ mochte sich Annette Schavan nicht bezeichnen lassen. Aber „ermutigen“ wolle sie gerne.
Annette Schavan, die ehemalige Bundes-Bildungsministerin, bis Juni 2018 Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland beim „Heiligen Stuhl“, dem Vatikan, plädierte in ihrer Festrede für mehr und nicht weniger Sonderpädagogik im Interesse einer inklusiven Gesellschaft: „Es gibt keinen Menschen, an dem Pädagogen vergeblich arbeiten.“ Schulleiterin Andrea Schott hatte zuvor Inklusion zur Gemeinschaftsaufgabe erklärt. Man müsse Respekt vor jedem einzelnen Menschen haben.
Andrea Schott, Direktorin der Schule. Eine Gebärdendolmetscherin übersetzte die Reden wahlweise in Gebärden oder Lautsprache. Für CI-Träger gab es Empfangsgeräte.
Die Direktorin hatte Dankesworte für viele, insbesondere die Vinzentinerinnen, vor allem aber für ihre Schülerinnen und Schüler: „Ihr seid die Kraftquelle in St. Josef.“
Schülerinnen und Schüler servierten zum Empfang Häppchen und Getränke, am Tag der Offenen Tür mixten sie auch Cocktails.
Die Reden und Gesänge wurden simultan in Schrift und Gebärden übersetzt. Das war in St. Josef lange Zeit nicht selbstverständlich. Dieter Steuer, ein ehemaliger Schüler, bedauerte im Rückblick, dass zu seiner Schulzeit „die sprechenden Hände“ im Unterricht verpönt waren: „Wir hätten schneller verstanden und begriffen, wenn wir die Gebärdensprache hätten benutzen dürfen.“ Im Interesse des Lautspracherwerbs war das im Unterricht lange verboten. Steuer: „Die ausschließlich lautsprachliche Erziehung war sehr anstrengend.“
Dieter Steuer war sieben Jahre alt und taubstumm, als ihn seine Eltern in den 1950er Jahren nach St. Josef schickten.
Steuer, heute Rentner und Seniorenbeauftragter des Gehörlosenverbands Baden-Württemberg, hat nach dem Hauptschulabschluss und einer Lehre als Fräser und Programmierer gearbeitet. Er dankte für die „gute Ausbildung, auch wenn ich als Kind oft verzweifelt bin“.
Annette Schavan im Publikum.
Schwäbisch-Gmünd liegt am Ufer des Flüsschens Rems, rund 50 Kilometer östlich von Stuttgart. Früher kamen nur katholische Schüler wie der junge Dieter Steuer hierhin, oft von weither. Steuer stellte erleichtert fest: „Heute spielt Religion überhaupt keine Rolle mehr.“ Außer in der christlichen Begründung von Nächstenliebe und pädagogischem Handeln. Christlich sei es, sagte Annette Schavan, „dafür Sorge zu tragen, dass niemand außen vor bleibt“.
Alt und neu vertragen sich hier: Gleich neben Schule und Stadtgarten plätschert die (renaturierte) Rems an der Altstadt von Schwäbisch-Gmünd vorbei (im Hintergrund ein Hochschulbau).
Einen Bericht über die Feier und die Rede von Annette Schavan finden Sie in Schnecke Nr. 101 (September 2018)
Text und Fotos: uk
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