21. März 2016

Ich bin fast taub, aber nicht dumm

Seit Juni 2015 wartet Nico Buse auf die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises, der seit 16 Jahren zu seinem Leben gehört. Der  Realschüler aus Holzwickede ist von Geburt an auf beiden Ohren so gut wie taub. Grad der Behinderung (GdB): 100 Prozent – so steht es im Ausweis. Im Alter von 16 Monaten wurde Nico deshalb mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt, ohne Technik bliebe seine Welt still. Damals wie heute.

Für den Kreis Unna ist Nicos Zustand kein Grund, den Schwerbehindertenausweis des Teenagers, der außerdem die Merkmale Gl (Gehörlosigkeit), RF (Ermäßigung oder Befreiung von der Rundfunk-Beitragspflicht), B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson), G (erhebliche Gehbehinderung) und H (Hilflosigkeit) trägt, automatisch zu verlängern. Auf Wunsch der Behörde soll Nico seine Anspruchsberechtigung ärztlich überprüfen lassen. Sogar sein Zeugnis – die Noten geschwärzt – sollte die Familie dem Sachbearbeiter vorlegen. Andernfalls sei eine „sachgerechte Beurteilung“ der Ansprüche nicht möglich, heißt es in einem Schreiben an die Familie. Die Buses schalteten empört eine Anwältin ein. Die Sozialrechtlerin Dr. Christina Ziems aus Dortmund findet für das Verhalten des Fachbereichs entsprechend deutliche Worte: „Das ist reine Schikane!“

Hörgerät mit vier Monaten, Implantat mit 16 Monaten, Bestnoten auf der Realschule, Berufswunsch Arzt: Nico Buse steht mitten im Leben. Ohne sein Implantat wäre er fast taub, mit CI ist er nicht aufzuhalten. Nico leidet seit seiner Geburt an einem beidseitigen Hörverlust durch Schallleitungsstörung. Diese Schädigung ist irreversibel, dies bestätigt ein Audiogramm. Nur deshalb übernahm die Krankenkasse die Kosten der Operation. Dank des Implantats führt der Borussia-Fan ein normales Teenagerleben. Aus dem Kleinkind, das im Alter von drei Jahren außer „Mama“ und „Pipi“ keine Wörter sprach, ist ein Überflieger geworden. Aus der Schule bringt er nur Einsen und Zweien mit nach Hause. Beim Landesschulwettbewerb „Begegnung mit Osteuropa“ gewann er 2012 mit seiner Arbeit über verschwundene Dinge des Alltags. Und er träumt davon, Augenarzt oder Neurologe zu werden. „Ich bin fast taub, aber nicht dumm“, sagt Nico selbstbewusst. Sein Implantat versteckt er nicht, der externe Sprachprozessor leuchtet in auffallendem Grün. Nico Buse: „Die Leute finden es cool, dass ich mit dem Implantat hören kann. Negative Erfahrungen habe ich nicht gemacht.“

Das scheint sich gerade zu ändern. Die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises ist normalerweise eine reine Formsache. Die Rechtslage in Sachen Nico Buse ist laut Dr. Ziems eindeutig. In den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen heißt es unter Punkt 5.1: Kinder oder Erwachsene mit angeborener Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit erhalten einen Grad der Behinderung (GdB) zwischen 80 und 100 – und das ein Leben lang. Auf die Bewilligung, im Regelfall innerhalb von zwei Wochen erteilt, wartet die Familie aus Holzwickede seit Sommer vergangenen Jahres. Sabine Buse ist sauer: „Dem Sachbearbeiter liegt die komplette Akte vor. Wofür benötigt er zusätzliche Untersuchungen und Beurteilungen?“ Auf Wunsch der Eltern hat die Anwältin jetzt Akteneinsicht gefordert.

Zum Fall Nico Buse möchte sich der Kreis Unna mit Hinweis auf Datenschutz nicht äußern. Die Aufforderung, weitere Gutachten und Unterlagen beizubringen, sei jedoch nicht ungewöhnlich, betont Constanze Rauert, Sprecherin des Kreises: „Mit Vollendung des 16. Lebensjahres erfolgt grundsätzlich von Amts wegen eine Nachprüfung des GdB und der zuerkannten Merkzeichen. Bundesweit wird der Grad der Behinderung nach der Versorgungsmedizin-Verordnung beurteilt.  Entscheidend hierfür ist auch das Sprachvermögen bzw. die Sprachstörung. Grundlage hierfür wiederum ist ein Sprach-Audiogramm, das in der Regel in einer HNO-Fachpraxis erstellt wird.“ Hilfreich seien in diesem Zusammenhang auch Aussagen der Schule zum alltäglichen Sprachverständnis. Ein klassisches Schulzeugnis mit Noten werde jedoch nicht benötigt, so Rauert weiter. Im Zuständigkeitsbereich des Kreises Unna erfolge keine systematische Prüfung von Cochlea-Trägern. Es werde in jedem Fall nach den Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt und entschieden.

Christine Weiser


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