18. April 2018

Rückständig in Sachen Inklusion: Belgien

Mara Matzke lebt mit ihrer Familie in Brüssel. Sie ist das erste Kind mit CI an ihrer Schule. Für die nötige Unterstützung musste die Familie kämpfen – mit Erfolg.


Foto: privat


Unsere Tochter Mara ist eine europäische Grenzgängerin. Die Koordinaten ihres Lebens und ihrer CI-Versorgung lauten Brüssel, Aachen und Südtirol/Italien. Als Mara im Juli 2007 zur Welt kam, lebten wir – eine Südtirolerin und ein Deutscher – schon seit mehreren Jahren in Brüssel, wo wir bei der Europäischen Union arbeiten. Geboren wurde Mara in Südtirol im Zuge eines ausgedehnten Sommerurlaubs in der Heimat. Davon, dass Mara bereits bei ihrer Geburt schwerhörig bzw. gehörlos war, ahnten wir lange nichts. Denn Mara fiel durch das Raster des eigentlich gut funktionierenden Neugeborenscreenings.

Zurück in Brüssel dachten wir, mit Mara wäre alles in Ordnung. Wie in Belgien üblich kam sie mit sieben Monaten in eine französischsprachige Kita. Wohl auch weil in Brüssel viele mehrsprachige Kinder aufwachsen, die häufig eine verspätete Sprachentwicklung aufweisen, blieb Maras fehlendes Hörvermögen lange unbemerkt. Erst als Mara schon 18 Monate alt war, kamen uns und auch ihrem Kita-Erzieher erste Zweifel. Die Untersuchungen an einer Brüsseler Uniklinik bestätigten Maras Schwerhörigkeit.

Gespräche mit anderen Eltern gaben Halt
Zunächst wurde Mara mit zwei Hörgeräten versorgt. Doch die behandelnde Ärztin riet uns gleich zur CI-Versorgung für das rechte Ohr. Nur wo operieren: in Brüssel, in Deutschland, in Italien? Letztlich entschieden wir uns für das Krankenhaus in Meran/Südtirol, wo Mara im Sommer 2009 implantiert wurde. Inzwischen wurde Mara noch zweimal dort implantiert: 2012 erhielt sie ihr zweites CI, das leider schon 2013 nach einem Sturz ersetzt werden musste.

In dieser Zeit nahmen wir auch erstmals an einer Familienferienfreizeit des Südtiroler Elternvereins hörgeschädigter Kinder teil. Die zahlreichen Gespräche mit Südtiroler betroffenen Eltern, Psychologinnen und Logopädinnen in Südtirol gaben uns Halt und Orientierung. Insbesondere zwei Einsichten reiften in uns: Zum einen mussten wir als Eltern jetzt alles darangeben, um Mara über intensives Sprechen beim Aufholen ihres zweijährigen Sprachentwicklungsrückstands zu helfen. Und zum anderen sollte Mara später in Belgien eine Regelschule besuchen, genau wie die Südtiroler Kinder. Italien praktiziert seit vielen Jahren volle Inklusion, Sonderschulen wurden abgeschafft.

Wieder zurück in Brüssel galt es zunächst einmal, Maras Reha zu organisieren. Glücklicherweise bekam sie einen Reha-Platz in der Kinderambulanz der Uniklinik Aachen. Seitdem reisen wir mit Mara für die Kontrolltermine immer aus Brüssel an. Dank guter Förderung holte Mara ihren Sprachrückstand sehr schnell auf.

Angst vor „schwierigen“ Kindern
Dann der erste Rückschlag: Der französischsprachige staatliche Kindergarten in unserer Nachbarschaft weigerte sich, Mara aufzunehmen. Den Ausschlag gab eine Lehrerin, die sich vor einem „schwierigen“ Kind fürchtete. Dabei hatte sie Mara nie getroffen. Leidvoll mussten wir erfahren, wie rückständig Belgien in Punkto Inklusion ist. CI-Kinder besuchen in der Regel Sonderschulen. In einem privaten deutsch-französischen Kindergarten fanden wir eine Alternative. Mit vier Jahren wechselte Mara dann 2011 in den Kindergarten der deutschsprachigen Sektion einer der vier Brüsseler Europaschulen.

Mara besucht derzeitig die fünfte Klasse der Europäischen Schule. Ihre Unterrichtssprache ist Deutsch. Seit der ersten Klasse lernt sie zudem Französisch und in diesem Sommer kommt Englisch als zweite Fremdsprache hinzu. Mara ist das erste CI-Kind an der Schule. Anfangs mussten wir kämpfen, damit Mara die nötige Unterstützung bekommt.

Bislang meisterte Mara die Schule gut. Sie hatte das Glück, in der Grundschule von einer sehr engagierten deutschen Sonderschulpädagogin betreut zu werden. Hatte Mara in der ersten Klasse die Förderlehrerin immer an ihrer Seite, so ist der Unterstützungsbedarf inzwischen auf fünf Stunden zurückgegangen. Entweder arbeitet die Förderlehrerin mit Mara im Klassenraum oder sie nimmt Mara aus der Klasse heraus. Inzwischen tragen alle Lehrer die FM-Anlage.

Die meisten ihrer Mitschüler kennen Mara seit dem Kindergarten und sind somit gut auf sie „eingestellt“. Im kommenden Sommer, wenn Mara in die Sekundarstufe wechselt, beginnt eine neue Etappe, auf der wir Eltern und ihre zwei hörenden Brüder sie weiterhin begleiten werden.

Tanja Wasserer und Sven Matzke

Dieser Erfahrungsbericht erschien auch in der Schnecke-Ausgabe 99. Weitere Infos dazu hier

 


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