17. September 2021

Wahlkampf 2021: Wie werden Hörbehinderte in den Wahlprogrammen berücksichtigt?

Am Sonntag, 26. September 2021, ist Bundestagswahl. Doch wen wählen? Welchen Kandidaten? Welche Partei? Um diese Entscheidung zu treffen, ist es hilfreich, sich vorab mit den Positionen der Parteien und der Kandidaten auseinander zu setzen. Dafür sind unter anderem die Wahlprogramme der Parteien gut – und die Wahlprüfsteine der DCIG. Ein Überblick von Annalea Schröder, politische Referentin der DCIG.

Im Frühsommer hat die DCIG Wahlprüfsteine zu acht verschiedenen Themen an die Parteien geschickt. So wollten wir herausfinden, wie sie zu Themen stehen, die für hörbehinderte Menschen von Interesse sind (siehe Schnecke Nr. 112). Hier gibt es jetzt einen kleinen Einblick in die Antworten. Die ausführlichen Stellungnahmen können auf der Webseite der DCIG und auf Schnecke-Online eingesehen werden. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatten uns die Union (CDU und CSU), die SPD, die Grünen und die Linke geantwortet. Da die FDP bis Redaktionsschluss noch keine Antworten übersendet hat, werden deren Positionen anhand des Wahlprogrammes abgebildet – soweit dies möglich ist.  

Ausgleichsabgaben am Arbeitsmarkt

Eine unserer Fragen an die Parteien bezog sich auf das Thema Arbeitsmarkt. Wir wollten wissen, ob sich die Parteien für eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe (siehe Infokasten) einsetzen werden, die Betriebe zahlen müssen, die nicht genügend schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer beschäftigen. Die Antworten waren recht unterschiedlich: Während die SPD angibt, dass sie die Ausgleichsabgabe weiterentwickeln möchte, hält sich die Union bei diesem Thema eher bedeckt. Im Wahlprogramm der Union selbst findet sich nichts zum Thema Ausgleichsabgabe, die Antwort auf unsere konkrete Frage fällt ebenfalls recht schwammig aus: Man wolle mehr Unternehmen überzeugen, Menschen mit einer Behinderung zu beschäftigen. An dieser Stelle soll auch erwähnt werden, dass Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im vergangenen Dezember angekündigt hatte, die Ausgleichsabgabe erhöhen zu wollen. Dieses Vorhaben scheiterte im Bundestag jedoch am Widerstand der Unionsfraktion.

Die Grünen hingegen bekräftigen die Ausgleichsabgabe und wollen diese für diejenigen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber erhöhen, die trotz verbesserter Beratungs- und Unterstützungsangebote weiterhin zu wenig Menschen mit einer Behinderung einstellen. Die Partei Die Linke spricht sich sehr deutlich für eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe aus und möchte zusätzlich den verpflichtenden Anteil schwerbehinderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von aktuell 5 auf 6 Prozent erhöhen. Sie verweist dabei auf einen Antrag, den Abgeordnete der Linken im vergangenen Jahr zu diesem Thema bereits im Bundestag gestellt hatten (Bundestagsdrucksache 19/24690). Die FDP bemängelt in ihrem Wahlprogramm zwar, dass es oft noch zum sogenannten „Freikaufen“ komme, bezieht sich dabei aber nur auf den außeruniversitären Forschungsbereich und macht keine konkreten Verbesserungsvorschläge. 

Barrierefreie Wahlkampfveranstaltungen

Auf unsere Frage an die Parteien, ob der Wahlkampf und Wahlkampfveranstaltungen barrierefrei durchgeführt werden (z. B. mit Schriftdolmetschung), kamen ebenfalls unterschiedliche Antworten. Die Union betonte, bei ihren Veranstaltungen immer auf Barrierefreiheit zu achten. Man werde diese „nach Möglichkeit“ auch für hörgeschädigte Menschen barrierefrei gestalten. Wie dies aussehen könnte, wurde allerdings nicht näher erläutert – auf die Möglichkeit der Schriftdolmetschung wurde nicht weiter eingegangen. Die Grünen gaben an, dass sie sich zu verschiedenen Elementen der Barrierefreiheit verpflichtet hätten. Dazu gehört etwa ein Wahlprogramm in Leichter Sprache. Bei zentralen Veranstaltungen (z.B. Parteitage) würden die Reden in Deutsche Gebärdensprache übersetzt. Schriftdolmetscher gibt es dort allerdings nicht. Online würden Veranstaltungen jedoch untertitelt werden. Die Linke gab an, dass im Wahlkampf und auch bei größeren Veranstaltungen wie Parteitagen auf Barrierefreiheit geachtet werde. Der Fokus liegt hier jedoch eher auf der Gebärdensprachdolmetschung als auf Schriftdolmetschung. Das Wahlprogramm der Linken gibt es neben der ausführlichen schriftlichen Version nach eigenen Angaben auch in Leichter Sprache, Einfacher Sprache, als Audiofassung sowie in Braille-Schrift. Die SPD antwortete, in den „Highlightformaten“ des Wahlkampfes und bei Bundesparteitagen auf Schriftdolmetschung zu setzen.

Hörgerechtes Bauen

Eine weitere unserer Fragen an die Parteien bezog sich auf „hörgerechtes Bauen“. Noch immer werden viele Neubauten nicht so gebaut, dass sie ein angenehmes Hörerlebnis bieten. Hallende Räumlichkeiten und fehlende Induktionsschleifen sind nach wie vor an der Tagesordnung. Daher wollten wir wissen, ob die Parteien sich für dieses Thema einsetzen wollen. Die Union antwortete uns, dass man das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) weiter entwickeln wolle. Das Thema Bauen wird in diesem Gesetz aufgegriffen. Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass das BGG im Grunde nur für öffentliche Einrichtungen und Träger gilt – die Privatwirtschaft ist nicht mit eingeschlossen. Ein entsprechendes Gesetz, welches auch die Privatwirtschaft zu mehr Barrierefreiheit hätte verpflichten können, ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das im Mai dieses Jahres von der Großen Koalition verabschiedet wurde. Dieses Gesetz ist jedoch weit hinter den Erwartungen vieler Verbände zurückgeblieben und hat lediglich Mindestanforderungen umgesetzt. Die DCIG hat damals Stellung zum Gesetzesentwurf bezogen (siehe Schnecke Nr. 111).

Die Grünen geben zum Thema Bauen an, dass gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit beim Bauen tatsächlich umgesetzt werden sollen. Konkrete gesetzliche Regelungen zu dieser speziellen Thematik müssten jedoch auf Länderebene erfolgen, da das Baurecht Ländersache sei. Die Linke schreibt, dass sie „die Herstellung von Barrierefreiheit als Gemeinwohlziel und als Teil einer angemessenen Wohnraumversorgung verbindlich gesetzlich im Baugesetzbuch und in den Bauordnungen der Länder festschreiben“ wollen. Dies schließe hörgerechtes Bauen selbstverständlich mit ein. Die SPD bewies in ihrer Antwort Detailwissen zu diesem Thema, benennt aber keine konkreten Handlungsabsichten.

Wieviel Platz wird „Behinderung“ gegeben?

Schaut man sich die Wahlprogramme der Parteien insgesamt an, wird dem Thema „Behinderung“ unterschiedlich viel Platz eingeräumt. Auch ist der Platz unterschiedlich aufgeteilt. Während die Union lediglich einen Absatz zum Thema „Inklusion im Alltag leben“ (S. 62) hat, werden Menschen mit einer Behinderung in den Wahlprogrammen der Linken, der Grünen und auch der SPD großflächig in vielen Themenbereichen wie beispielsweise Mobilität, Stadtplanung, Arbeit und Bildung mitgedacht. Im Programm der FDP kommen Menschen mit einer Behinderung zwar nicht oft vor, jedoch erkannte die FDP, dass die Beseitigung von Barrieren mehr Freiheit für alle bedeutet und niemandem etwas wegnimmt.

Bei der Beantwortung unserer Fragen gingen die Parteien ebenfalls unterschiedlich konkret auf den Inhalt der Fragen ein. Die Union beantwortete unsere Fragen sehr allgemein, die Linke hingegen ging konkret darauf ein und hat diese beantwortet. Grüne und SPD waren mal konkret und mal eher allgemein.

 

Häufigkeit der Schlüsselwörter in den Wahlprogrammen der Parteien. In Klammern ist der Umfang der jeweiligen Programme notiert.

Schlüsselwörter als Tendenz

Eine vielleicht nicht ganz ernstgemeinte Suche nach Schlüsselwörtern sagt natürlich nichts über den grundsätzlichen Inhalt des Wahlprogrammes aus, zeigt jedoch eine Tendenz, wie sehr die Parteien Inklusion, Barrierefreiheit und Menschen mit einer Behinderung mitdenken, bzw. welchen Stellenwert sie im jeweiligen Wahlprogramm haben.

 Foto: iStock/Zerbor

Wahl-Basics für Interessierte

Bei der Bundestagswahl haben wir zwei Stimmen, wählen aber den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin nicht direkt!

D.h. auf dem Wahlzettel werden nicht Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet stehen – es sei denn, man wohnt im Wahlkreis 61 Potsdam, dort treten aller Voraussicht nach sowohl Annalena Baerbock, als auch Olaf Scholz für ein Direktmandat an. Armin Laschet hingegen bewirbt sich nicht um ein Direktmandat, sondern möchte über die Liste der CDU-NRW in den Bundestag einziehen. Doch der Reihe nach:

Mit der Erststimme wählt man eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis, d.h. die Stadt/der Kreis, in der man lebt. Hier ist es also wichtig zu schauen, wofür die Kandidatin oder der Kandidat sich in Berlin für seine oder ihre Region/Stadt einsetzen möchte. Mit der Erststimme wählt man also das Direktmandat. Das Direktmandat bekommt die Person, die die meisten Stimmen erhalten hat. Funfact: Annalena Baerbock (Kanzlerkandidatin der Grünen) und Olaf Scholz (Kanzlerkandidat der SPD) stehen beide im selben Wahlkreis zur Wahl: In Potsdam (beide leben dort). Die Wahl der Erststimme hat aber nichts mit der Wahl zur Bundeskanzlerin oder zum Bundeskanzler zu tun – dafür ist die Zweitstimme viel wichtiger:

Mit der Zweitstimme wählt man die Liste einer Partei. Über die Zweitstimme kommen die Abgeordneten über die Liste in den Bundestag. Auf der Liste werden nacheinander alle Personen aufgeführt, welche die jeweilige Partei für das Bundesland in das Parlament schicken will. Von der Anzahl der Zweitstimmen, die eine Partei erhält, hängt es ab, wie viele Personen auf der Liste in den Bundestag einziehen. Wenn eine Partei sehr wenig Zweitstimmen erhält, kann es sein, dass z.B. nur die ersten beiden Personen auf der Liste in den Bundestag einziehen. Erhält sie hingegen viele Zweitstimmen, kann es auch sein, dass fast alle Personen auf der Liste einziehen. Die genauen Zahlen hängen jeweils vom Wahlergebnis ab. Daher ist es für die Kandidatinnen und Kandidaten wichtig, möglichst weit oben auf der Liste zu stehen. Armin Laschet steht daher bei der CDU von Nordrhein-Westfalen auf Listenplatz 1 – so kann er sicher sein, in den Bundestag einzuziehen, obwohl er sich nicht um ein Direktmandat in seinem eigenen Wahlkreis bewirbt (s.o.). Annalena Baerbock und Olaf Scholz stehen ebenfalls jeweils auf Platz 1 der Landeslisten ihrer Parteien. So können sie ebenfalls sicher sein, in den Bundestag einzuziehen – entweder über ein Direktmandat oder über die Liste.

Die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler wird am Ende von den Abgeordneten im Parlament (d.h. im Bundestag) gewählt. Wir selber wählen also über unsere Erst- und Zweitstimme nur die Abgeordneten, die dann den Kanzler oder die Kanzlerin in unserem Namen wählen.

Besonderheiten des deutschen Wahlsystems führen dazu, dass sich die Anzahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag in den letzten Jahren immer weiter erhöht hat. Wenn eine Partei z. B. mehr Direktmandate bekommt, als ihr eigentlich über die Listenplätze zustehen würde, bekommt sie diese Sitze trotzdem. Das sind dann sie sogenannten Überhangmandate. Damit aber das Verhältnis über die Listen trotzdem noch gewahrt wird und alles fair zugeht, bekommen die anderen Parteien in den entsprechenden Bundesländern auch trotzdem ihre Sitze, über die sogenannten Ausgleichsmandate. Diese Regelung führt dazu, dass die Anzahl der Abgeordneten seit Jahren steigt und der Deutsche Bundestag mittlerweile nach China das zweitgrößte Parlament der Welt ist. Gesetzlich vorgesehen sind eigentlich 598 Abgeordnete, aktuell sitzen 709 Abgeordnete im Bundestag von denen 10 fraktionslos sind. Es wird erwartet, dass die Anzahl der Abgeordneten nach der Wahl im September noch weiter steigt.

Text: Annalea Schröder


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