25. Mai 2021
„Barrierefreiheitsstärkungsgesetz trägt Namen zu Unrecht“
Am 20. Mai hat der Bundestag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verabschiedet. In einer Stellungnahme hat die Deutsche Gesellschaft der Hörbehinderten, deren Mitglied die DCIG ist, das Gesetz scharf kritisiert.
Lesen Sie hier die Stellungnahme im Wortlaut:
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird seinem Namen nicht gerecht!
Nach intensivem Austausch über das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sind sich die Verbände der Deutschen Gesellschaft der Hörbehinderten – Selbsthilfe und Fachverbände e. V. (DG) einig, dass das Gesetz weit hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Zum einen bietet das Gesetz kaum wirkliche Verbesserungen für Menschen mit Hörbehinderungen, zum anderen haben sich einige Aspekte gegenüber dem ursprünglichen Entwurf sogar verschlechtert.
Einige Regelungen – bspw. die Ausnahme von kommunalen und regionalen Verkehrsdiensten von einem Großteil der Verpflichtungen – erhalten und festigen sogar viele Barrieren, mit denen viele Menschen alltäglich konfrontiert und herausgefordert werden. Dem im Gesetzestext formulierten Ziel – der Umsetzung umfassender Barrierefreiheit – wird das Ziel somit nicht gerecht und trägt daher aus Sicht der DG seinen Namen zu Unrecht!
Verbandsklagerecht
Positiv zu sehen ist die zukünftige Möglichkeit der Verbandsklage und der Möglichkeit für Verbände, Verfahren bei der Schlichtungsstelle des Bundes einzuleiten, sofern der Sachverhalt die von Ihnen vertretenen Interessen berührt.
Marktüberwachung unzureichend
Bereits in vergangenen Stellungnahmen haben die DG und ihre Verbände gefordert, die Marktüberwachung auf die Bundesebene zu verlagern, um Reibungsverluste durch Zuständigkeitsfragen und unzureichende Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu vermeiden.
In dem verabschiedeten Gesetz bleibt die Verantwortung zur Überwachung weiterhin bei den Ländern. Es wird dabei aber nicht deutlich, wie eine effektive, länderübergreifende Marktüberwachung aufgebaut und gewährleistet werden soll. Eine vergleichbare Erfassung und Übersicht bundesweiter Daten scheint daher sehr unwahrscheinlich.
Fristen und Übergangsfristen zu lang
Fristen zur Nachbesserung bei nicht barrierefreien Angeboten und Dienstleistungen können sich addieren und somit die tatsächliche Umsetzung von einer barrierefreien Angebotslandschaft stark in die Länge ziehen. Der Verzicht der Gesetzgeber auf eine Höchstdauer der Fristen verlagert diese Entscheidung auf die folgende juristische Auslegung des Begriffes der „angemessenen Frist“, schafft aber keine allgemeingültige Maximaldauer.
Besonders die Übergangsfristen für Selbstbedienungsterminals wurden im Vergleich zum ersten Entwurf sogar angehoben und ermöglichen so bei Ausreizen der festgelegten Fristen einen rechtskonformen Betrieb nicht barrierefreier Terminals bis 2040.
Fristen zur Übergangsregelung und zur Mängelbehebung sind somit entweder noch völlig offen oder schlicht zu lang. Anbietern von Produkten und Dienstleistungen wird auf diesem Wege ein enorm großer Spielraum zum Ausreizen möglicher Fristen gegeben, während die Umsetzung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes unnötig verlängert und verwaschen wird.
Bußgelder zu gering
Durch die niedrige Deckelung möglicher Bußgelder haben die Gesetzgeber die Durchsetzungsmöglichkeiten selbst bei festgestellten Mängeln unnötig stark eingeschränkt. Eine – wie bereits vom Deutschen Gehörlosenbund geforderte – Erhöhung der möglichen Bußgelder hätte den Durchsetzungsstellen mehr Kompetenzen gegeben und die Wahrscheinlichkeit einer eigenverantwortlichen Umsetzung der Regelungen durch die Anbieter erhöht.
Die Kombination aus vage und offen formulierten Fristen und stark begrenzten Möglichkeiten der Durchsetzungstellen priorisiert deutlich die Interessen der Wirtschaft gegenüber den Interessen der Menschen mit Behinderungen und steht somit im Gegensatz zum eigentlichen Gesetzesziel.
Zusammenfassung
Die DG und ihre Verbände halten das Gesetz für durchsetzungsschwach und unzureichend. In der aktuellen Fassung des Gesetzes ist abzusehen, dass die Umstellung auf barrierefreie Produkte und Dienstleistungen unnötig um viele Jahre verzögert wird und damit einhergehende Probleme und Defizite in der Umsetzung aufgrund einer dezentralen Datenerhebung kaum sichtbar sein werden.
Die Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber internationalen Konzernen zudem schwindet unnötig durch die Verantwortung auf Länderebene und durch die Verschleppung der tatsächlichen Umsetzung werden Forschung und Entwicklung zu barrierefreien Angeboten zusätzlich gehemmt, da die Nachfrage voraussichtlich ausbleiben wird.
Neben diesen grundsätzlichen Kritikpunkten wird kaum oder nur nebensächlich auf die Bedarfe von Menschen mit Hörbehinderungen eingegangen, sodass das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – besonders für diesen Personenkreis – weit am selbstgesteckten Ziel vorbeigeht.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wirkt somit wie eine Pflichtveranstaltung zur Umsetzung von EU-Recht. Es fehlen der Mut und die Entschlossenheit zur Durchsetzung einer längst überfälligen Regelung, die eine massive Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe im Alltag von mehr als 10 Prozent der deutschen Bevölkerung bedeuten würde. Stattdessen erhält die Wirtschaft noch eine Schonfrist von bis zu 19 Jahren, um sich auf die geänderte Rechtslage einzustellen.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz trägt daher nicht nur seinen Namen zu Unrecht, es verfehlt das Ziel des European Accessibility Acts um Längen!
Quelle: Deutsche Gesellschaft der Hörbehinderten – Selbsthilfe und Fachverbände e.V.
Stellungnahme als PDF zum Download.
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