18. Oktober 2023

DCIG-Fachtagung Rückblicke für die Zukunft 

Mitte Juni luden die DCIG und der CIV NRW zur Fachtagung in den Wissenschaftspark Gelsenkirchen. Das Motto der dreitägigen Veranstaltung: "Kulturwandel – Zeitenwandel. Das Cochlea-Implantat im Wandel der Zeit".

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NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, Schirmherr der DCIG-Fachtagung, sagte zur Eröffnung in einer Videobotschaft: "Dass Sie sich in einer Selbsthilfe zusammengeschlossen haben, kann man gar nicht hoch genug bewerten." Dem schloss sich Claudia Middendorf, NRW- Landesbeauftragte für Behinderte und Patienten, an: "Sie geben, was medizinisches Fachpersonal nicht geben kann: Hilfestellungen und persönliche Erfahrungen. Und Sie leisten wichtige Aufklärungsarbeit." Sie wünsche sich, dass das Cochlea-Implantat so normal werde wie eine Brille zu tragen. 

Hör-Pioniere: "Der Ausgang war ungewiss"

Wie der Weg bisher war, zeichnet der Autor und Fachjournalist Martin Schaarschmidt im Buch nach: "Hör-Pioniere. Wie das Cochlea-Implantat nach Deutschland kam." Mit zahlreichen ausführlichen Interviews beleuchtet er die Geschichte des CIs in Deutschland: "Damals war vieles ‚einfach machen‘ und unkonventionell", sagte Schaarschmidt.

DCIG-Vizepräsidentin Sonja Ohligmacher ist eine Hör-Pionierin. Sie reiste 1981 nach Wien, um ein Cochlea-Implantat zu erhalten. "Der Ausgang war ungewiss, aber einer musste den Anfang machen", so Ohligmacher, die dem Operateur vertaute. Der erste Ton habe ihr zwar keine Tränen entlockt, "aber ich war begeistert." 

DCIG-Fachtagung - Fünf Schwerpunktthemen

Geprägt war die DCIG-Fachtagung von fünf Themenblöcken: 

  • Medizin, 
  • Bildung und Inklusion, 
  • CI-Technik 
  • Selbsthilfe im Wandel der Zeit 
  • Nachsorge. 

Hohe Ansprüche bei der CI-Anpassung

Prof. Dr. Ulrich Hoppe referierte über Entwicklungen bei der CI-Anpassung. "Früher ging es nur um Sprache, da hat von Musik noch keiner gesprochen", sagte Hoppe. Heute seien die Ansprüche hoch, sagte der Leiter der audiologischen Abteilung am Universitätsklinikum Erlangen. 

Die CI-Anpassung von morgen stellt sich Hoppe als eine initiale Einstellung durch den Experten gefolgt von einer subjektiven Bewertung über das Smartphone vor. Er betonte die Notwendigkeit eines externen Abgleichs und sieht eine pure Selbstanpassung kritisch.

Weiterentwicklung der CI-Indikationen

Dr. André Morsnowski von der HNO-Klinik Köln-Holweide referierte zu CI-Indikationen. Seien Anfangs nur beidseitig ertaubte Erwachsene implantiert worden, folgten ab 1999 Resthörige. 2012 setzte sich dann auch die CI-Versorgung bei einseitig ertaubten Menschen durch. 

Drei Leitlinien sind zwischen 2002 und 2021 veröffentlicht worden. Der Freiburger Einsilbertest ist ein festes Kriterium, für wen ein CI in Frage kommt, aber Messungen im Störgereäusch seien wünschenswert. 

CI für Kinder - eine Erfolgsgeschichte

Prof. Dr. Joachim Müller vom LMU-Klinikum Großhadern erinnerte an Zeiten, in denen im wissenschaftlichen Diskurs eine Versorgung von Kindern mit CI als ethisch nicht vertretbar oder umsetzbar gewertet wurde. "Es war eine große Hemmschwelle, überhaupt eine Eletrode einzuführen. Mittlerweile ist es Standard. Die Elektroden sind verträglicher und atraumatischer geworden", sagte Müller. Das CI sei eine Erfolgsgeschichte, die OP-Techniken sicher, so Müller. 

Bildung: zunehmend inklusive Beschulung 

Ulrike Laufenberg von der Rheinisch-Westfälischen Realschule Dortmund stellte das Konzept "Gemeinsames Lernen" vor. Als Ansprechpartnerin für den Schwerpunkt Hören betreut ihre Abteilung inzwischen 140 Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen. 2008/2009 waren es noch zwei Schüler gewesen. 

Die Schüler erhalten Unterstützung und Informationen zu vier Themenschwerpunkten: Anatomie und Physiologie des Hörorgans, Technik und Hörhilfen, Kompensationsstrategien sowie Identitätsfindung. Wichtig sei auch die Vernetzung der hörbeeinträchtigten Schüler samt Eltern untereinander. 

Den Trend, Kinder mit Hörschädigung an allgemeinen Schulen zu unterrichten, untermauerte Prof. Dr. Karoline Schäfer von der Universität zu Köln mit Daten der Kultusministerkonferenzen.

Lag 2009 der Anteil von Kindern mit Förderschwerpunkt Hören noch bei 27 Prozent an allgemeinen Schulen, ist es 2021 / 22 mehr als jedes zweite Kinder mit Förderschwerpunkt in der inklusiven Bestuhlung. Dementsprechend nimmt deren Anteil an Förderschulen ab.

Förderschulen: "eine Art Schonraum"

Über die Möglichkeiten und Hindernisse in der beruflichen Integration Hörgeschädigter berichtete Sandra Munk von der Handzeichen GmbH in Essen. Sie ist Betroffene und Coach. Zu ihren Kunden zählen oft hörgeschädigte Menschen, die von Förderschulen kämen: "Was soll ich sagen, das ist eine Art Schonraum. Im wirklichen Leben kommen sie nicht zurecht." Die Handzeichen GmbH bereitet diese Menschen auf die betriebliche Wiedereingliederung vor, unterstützt bei der Suche nach einem passenden Arbeitsplatz und der Bewerbung – ein Modell, das viel Anklang unter den Besuchern fand. 

Hörtechnik früher und heute 

Für viel Staunen und Schmunzeln sorgte Karin Zeh, Audiotherapeutin der Median Kaiserberg Klinik in Bad Nauheim. Sie präsentierte Abbildungen von zahlreichen historischen Hörhilfen. Eines der ältesten ist das Tischmikrofon Ellipsis Otica aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im 18. und 19. Jahrhundert folgten Hörrohre, Hörtrichter und Hörpfannen. Selbst versteckte Hörhilfen wurden damals bereits entwickelt: für die Herren ein Spazierstock und die Damen ein Fächer. Im 20. Jahrhundert folgten Taschenhörgeräte, Hinter-dem-Ohr- und Im-Ohr-Hörgeräte und schließlich Cochlea-Implantate.

Vibrationswecker und Rauchmelder

Der anschließende Vortrag von René Darkowski der Firma Humantechnik weckte bei vielen Besuchern Erinnerungen. 1985 gegründet, brachte das Unternehmen zunächst ein Schreibtelefon auf den Markt, 1987 folgte die Signalanlage Lisa mit einer Signalübertragung über das Stromnetz.

Im Portfolio hat das Unternehmen aktuell unter anderem Blink- und Vibrationswecker sowie Vibrationsanlagen und Rauchwarnmelder. Wecker und Signalanlage sind seit 1996 offiziell als Hilfsmittel im Sinne gesetzlicher Krankenkassen anerkannt. Die Krankenkassen müssen Anschaffungskosten übernehmen.

Cochlea-Implantate der Zukunft

Einen Blick in die Zukunft warf Erik Klein vom Institut für Mikrosystemtechnik (IMTEK) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er machte in seinem Vortrag "Der Klang von Licht: Optische Cochlea-Implantate und ihre Entwicklung" deutlich, wie kompliziert und aufwendig es ist, eine neue Art von Hörimplantat zu entwickeln.

Bereits im Einsatz ist das Total Implantierbare Cochlea-Im-plantat (TICI), zumindest bei den Teilnehmern an der Machbarkeitsstudie. Tobias Einberger der Firma Med-El gab erste Einblicke und verdeutlichte vor allem die gestiegenen Anforderungen bezüglich einer Zulassung eines medizinischen Produktes. Fazit: Bis das TICI für den Markt zugelassen wird, werden noch Jahre vergehen. 

Selbsthilfe im Wandel der Zeit 

"Vom Kaffeekränzchen zum ernstgenommenen Partner im Gesundheitswesen" lautete der provokante Titel von Marion Hölterhoffs Vortrag. Nach der Gründung der DCIG im Jahr 1987 und der Regionalverbände, wie zum Beispiel dem CIV NRW im Jahr 2000, war es die erste große Aufgabe, sich zu organisieren und einen Anspruch zu formulieren. Es ging vor allem auch darum, Rechte durchzusetzen, so die CIV- NRW-Vorsitzende. Und natürlich sei es immer darum gegangen, das Cochlea-Implantat bekannt zu machen. 

Dieses Ziel verfolgt die Selbsthilfe heute noch, daneben spielt die Beratung von Menschen mit Hörschädigung eine zentrale Rolle. Betroffene können von Erfahrungen anderer profitieren, der Austausch kann Ängste nehmen und Unsicherheiten beseitigen. "Wir überlegen teilweise wirklich zehn Jahre: Soll ich es wirklich wagen, besser zu hören?", zog Hölterhoff ein Fazit.

Deaf-Ohr-Alive, die junge Selbsthilfe

Oliver Hupka, Vizepräsident der DCIG, zeigte in seinem Vortrag, wie die DCIG sich verjüngt. Mit der Blogwerkstatt im Jahr 2015 war die Idee von Deaf-Ohr-Alive, der jungen Selbsthilfe, geboren. Mit insgesamt über 300 Teilnehmern an den Blogwerkstätten ist die Gruppe etabliert. Sie sind immer noch Teil des vielfältigen Angebots. 

Inzwischen haben sich sechs regionalen Untergruppen gebildet, unter anderem Deaf Ohr Alive NRW. Daniel Aplas berichtete, dass die Gruppe 2018 in den Sozialen Medien startete, 2020 erhielt sie den NRW-Selbsthilfepreis der gesetzlichen Krankenkassen ausgezeichnet.

CI-Nachsorge: Potenzial ausschöpfen 

Obwohl in den vergangenen Jahren viel entstanden und weiterentwickelt wurde, mangelt es aber oft noch an einheitlichen Konzepten und sicherer Finanzierung. Yvonne Seebens vom CIC Rhein-Main verdeutlichte in ihrem Vortrag, dass dies auch an sich wandelnden Gegebenheiten liegt. Die Ausweitung der Indikation auf einseitige Taubheit und auf Zusatzbehinderungen hat eine Anpassung des Hörtrainings erfordert.

Bezüglich evidenzbasierter Qualitätsmaßstäbe in der Kindertherapie wies Seebens auf Nachholbedarf hin. Vieles beruhe auf Erfahrung. Eine wichtige Orientierung bietet das Kapitel zu Hörstörungen in der Ende 2022 veröffentlichten S3-Leitlinie "Therapie von Sprachentwicklungsstörungen". Dieses empfiehlt familienzentrierte Eltern-Programme ebenso wie musikalische Früherziehung. 

CI-Rehabilitation: Standards fehlen

Wie die Therapie nach der CI-Operation bei Erwachsenen aussieht, verdeutlichte Dr. Roland Zeh, Präsident der DCIG und Tagungsleiter. Gemäß Leitlinie ist der Prozess in Basis- und Folgetherapie (Rehabilitation) sowie Nachsorge unterteilt. Wie eine CI-Rehabilitation aber aufgebaut ist, da mache jeder, was er wolle, so Zeh. "Es gibt tatsächlich Kliniken, die setzen ein CI ein und dann gibt es ein Rezept für Logopädie und das war es", kritisierte der DCIG-Präsident. Andere bieten stationäre Reha am Stück, auf mehrtägige Blocks verteilt oder auch ambulant vor Ort an. "Hier sollte man eine Vereinheitlichung anstreben, auch wegen der Kostenübernahme", forderte Zeh. 

Audiotherapie als Teil der Rehabilitation

Audiothterapueten sind oft in die Rehabilitation von Hörgeschädigten eingebunden. Peter Dieler stellt etablierte Weiterbildung "Audiotherapie (DSB)" vor. Audiotherapie sei eine Frage der Haltung im Umgang mit hörgeschädigten Menschen, sagte Dieler. In seinem Vortrag ging er sowohl auf die Inhalte (ein ganzheitlicher Ansatz, um erwachsenen Menschen dabei helfen zu können, mit ihren Hör- und Kommunikationsproblemem besser zurechtzukommen) als auch auf die Unterschiede zur Euha-Fortbildung zum Audiotherapeuten ein. Letztere sieht in der Audiotherapie eine Hörsystemversorgung begleitende Therapie. 

Dieler kritisierte, dass das die Idee "Von Betroffenen für Betroffene" verwässere und sieht die Notwendigkeit, die Definitionen, was Audiotherapie ist, zu klären und sie als eigenes Berufsfeld anzuerkennen. 

Langzeitnachsorge neu ausrichten

Olaf Delker, Hörakustikmeister bei Auric Hörsysteme stellte zum Themenblock Nachsorge das Remote-Fitting-System vor. Auric hat es zusammen mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) entwickelt. Kliniken stünden bei einer steigenden Zahl von Nachsorgen vor der Entscheidung spezielle Zentren aufzubauen oder die Langzeitnachsorge auszulagern. Auric sei seit 2012 ein verlässlicher Partner. Delker zeigte auf, wann eine Fernanpassung über den Akustiker in Frage kommt. So brauche es unter anderem eine stabile MAP, also Einstellung, und der CI-Patient müsse bei der Einstellung aktiv mitarbeiten können. Problem: Noch übernehmen nicht alle Kassen diese Art der Nachsorge. 

Kritischer Blick in die Zukunft

Trotz der noch zu klärenden Kritikpunkte zeigte sich Roland Zeh hinsichtlich der Entwicklung der CI-Versorgung in den vergangenen vier Jahrzehnten zufrieden. "Wir haben hier einen wesentlich höheren Versorgungsstandard als in anderen Ländern", sagte Zeh. Sorgen aber bereitete ihm die Zukunft: "Ich bin skeptisch, ob wir diesen Standard in Anbetracht des Fachkräftemangels so halten können." Je mehr der Fachkräftemangel weitergehe, desto wichtiger werde die Selbsthilfe werden.

Freudiges Wiedersehen neben Fachvorträgen

Die DCIG-Fachtagung findet jährlich statt und ist auch ein Treffen von Fachleuten und Betroffenen. Es war ein freudiges Wiedersehen bei Sonnenschein und viel guter Laune: Mehr als 100 Teilnehmer kamen zur achten DCIG-Fachtagung. Die CIV- NRW-Vorsitzende Marion Hölterhoff begrüßte die Angereisten in "einer faszinierenden Region, in der eine Metamorphose von einer Industrieregion zu einer grünen, kulturellen stattgefunden hat". 

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Die DCIG dankt den vielen ehrenamtlichen Helfern sowie den Ausstellern Advanced Bionics, Auric, Cochlear, Gnadeberg, Humantechnik und Med-El. Die Fachtagung wurde gefördert von Aktion Mensch. 


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