5. Dezember 2018
CI-Fachtagung des Dt. Gehörlosen-Bundes: Für das Recht auf Gebärdensprache – aber gibt es auch ein „Recht auf Hören“?
Ende November lud der Deutsche Gehörlosen-Bund zur Fachtagung „Cochlea Implantat – Realitäten ohne Zwang“ nach Berlin. Dabei machte der DGB auch seine Forderung nach bilingualer Förderung in Laut- und Gebärdensprache für CI-Kinder nochmals deutlich.
Ein Jahr ist es her, dass der „Fall Braunschweig“, dessen Entscheidung vor dem Goslaer Familiengericht noch aussteht, für einen Aufschrei sorgte. Die Frage, die dabei zu klären ist: Gefährdet eine Nicht-Implantation eines tauben Kleinkindes mit einem CI sein Kindeswohl? Darf man ein taubes Kind mit einem CI versorgen, auch wenn die Eltern das nicht wollen? Die klare Antwort, die Experten und Selbsthilfeverbände Hörgeschädigter, einschließlich der DCIG, damals gaben: Nein. Eine solche „Zwangsimplantation“ sei schon allein deshalb abzulehnen, weil die Eltern „ihr Kind auch auf seinem Weg in die lautsprachliche Gesellschaft aktiv begleiten (müssen)“, betonte DCIG-Präsident Roland Zeh schon 2017 in seiner Stellungnahme. Der Deutsche Gehörlosen-Bund hat diesen Fall nun zum Anlass genommen, zu der Fachtagung „Cochlea Implantat – Realitäten ohne Zwang“ am 28. November in das Berliner Kleisthaus des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales einzuladen.
Sachlicher Dialog statt dogmatischer Austausch
Bundesbehindertenbeauftragter Jürgen Dusel war Schirmherr der Fachtagung. Er plädierte für einen undogmatischen Austausch zum Thema.
„Das Kleisthaus ist ein Haus des Dialoges und ... Dialog ist auch wichtig bei diesem Thema“, betonte Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung und Schirmherr der Fachtagung in seinem Grußwort. Dabei plädierte Dusel ausdrücklich für einen sachlichen Austausch, „und zwar undogmatisch“. Stattdessen solle man schauen, um was es hier eigentlich gehe, nämlich um das Kindeswohl und die Eltern, die sich in einer „Extremsituation“ befänden: „Entscheiden sie sich für eine Implantation, wird ihnen vielleicht der Vorwurf gemacht, dass sie ihr Kind nicht so angenommen haben, wie es auf die Welt gekommen ist, und vielleicht dem ... ‚Optimierungsdruck der Gesellschaft‘ nachgegeben haben. Entscheiden sie sich gegen die CI-Implantation, kann es sein, dass ihr Kind ihnen später den Vorwurf macht, dass es die Chance nicht hatte, bilingual in Gebärdensprache und Lautsprache großwerden zu können“, schilderte Dusel die schwierige Situation von Eltern und den Druck, dem sie sich ausgesetzt sehen. „Mein Herz schlägt in diesem Fall für die Eltern“, machte Dusel deutlich.
Neben Dusel richteten auch Helmut Vogel, Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes, Vanessa Ahuja vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Ulrich Hase von der Deutschen Gesellschaft für Hörbehinderte ein Grußwort an die rund 110 anwesenden Gäste aus Politik, Wissenschaft und Selbsthilfe aus, in denen sie sich alle gegen einen Zwang zum CI aussprachen. Während Ahuja insbesondere die Ängste Gehörloser vor Anpassungsdruck an die Mehrheitsgesellschaft schilderte, machte Hase vor allem auf ein Vakuum in der UN-Behindertenrechtskonvention aufmerksam: „Wir haben das Recht auf Selbstbestimmung, wir haben das Recht auf Gebärdensprache, aber es ist in der UN-Behindertenrechtskonvention nicht geregelt, ob ich mich für ein wie auch immer behindertes oder nichtbehindertes Leben grundsätzlich entscheiden kann. Und es ist auch nicht geregelt, wie weit Eltern dabei für ihre Kinder entscheiden können“, sagte Hase. Vogel sah in der Fachtagung deshalb eine „große Chance“, sich gegenseitig zuzuhören, sich auszutauschen und in einen Diskurs zu kommen. Das Angebot der DCIG, dem größten CI-Selbsthilfeverbandes, im Vorfeld bei der Fachtagung zu unterstützen, hatte der DGB allerdings ausgeschlagen, was CI-Träger ob der Kompetenz der DCIG in Sachen CI in sozialen Netzwerken kritisierten. Auch das Auslegen der Fachzeitschrift Schnecke – Leben mit Cochlea Implantat & Hörgerät wurde explizit untersagt.
Prominente Grußworte (v.l.): Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, Vanessa Ahuja vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Ulrich Hase von der Deutschen Gesellschaft der Hörbehinderten und Helmut Vogel vom Deutschen Gehörlosen-Bund.
„Die Entscheidung müssen Eltern treffen“
In den darauf folgenden Fachbeiträgen, die der Deutsche Gehörlosen-Bund zusammengestellt hatte, wurde insbesondere die Wichtigkeit des Erlernens einer tragfähigen Sprache schon im frühen Alter betont. Dabei mache es im Hinblick auf die Vermeidung von sprachlichem Entzug (language deprivation) keinen Unterschied, ob diese über den visuellen (Gebärdensprache) oder auditiven Kanal (Lautsprache) erworben werde, betonte Prof. Christian Rathmann von der Humboldt Universität zu Berlin. Sollte der auditive Kanal aufgrund einer Schwerhörigkeit nicht klappen und die Entscheidung für ein CI fallen, müsse ein Sprachentzug dringend vermieden werden. Für ihn sei es deshalb keine Frage des Entweder-oder von Laut- und Gebärdensprache, „sondern es muss eigentlich beides stattfinden“, so Rathmann. Auch Entwicklungspsychologin Prof. Gisela Szagun plädierte dafür, die CI-tragenden Kinder zweisprachig in Gebärden- und Lautsprache aufwachsen zu lassen. Damit kein Kind ohne Spracherwerb bleibe, müsse die Gebärdensprache mindestens dann eingesetzt werden, wenn der Lautspracherwerb „nicht funktioniert“. Hier gelte es, die Sprachentwicklung, insbesondere die grammatischen Fortschritte mit Verlaufskontrollen genau zu überwachen.
Einer unter CI-Skeptikern häufig geäußerten Forderung, ein taubes Kind nicht zu implantieren, um es später selbst entscheiden zu lassen (eine solche Forderung teilte beispielweise der Landesverband der Gehörlosen in NRW auf Facebook), erteilte Prof. Claudia Becker (HU Berlin) dagegen eine Absage: „Wenn wir sagen, das Kind soll auch profitieren können vom Hören lernen, dann können wir nicht abwarten mit einer CI-Versorgung, bis das Kind wirklich so reflektieren kann, dass es entscheiden kann, ein CI zu bekommen. Egal, wie schön das wäre, es ist und bleibt eine Entscheidung, die die Eltern in früher Kindheit für das Kind treffen müssen.“ Warte man zu lange, sei die Gefahr zu groß, dass das Hören dann nicht mehr klappe, sagte Becker mit Verweis auf zahlreiche Studien.
DGB fordert bilinguale Angebote
Daniel Büter (l.) und Steffen Helbing (r.) moderierten die Fragerunde mit den Referenten (v. l.) Claudia Becker, Katrin Bentele, Ulrike Gotthardt und Christian Rathmann.
Der Appell der eingeladenen Referenten, die Gebärdensprache von Anfang an zu fördern, unabhängig vom Erfolg des CIs, spiegelte sich auch in einer der drei Forderungen wieder, die der DGB kurz vor der Fachtagung in einer Pressemitteilung veröffentlicht hatte. Darin forderte der Deutsche Gehörlosen-Bund unter anderem eine „verpflichtende Festschreibung von Angeboten zum Erlernen der Gebärdensprache sowie zur Beratung und Begleitung durch gehörlose gebärdensprachkompetente Erwachsene mit Gebärdensprachkompetenz im Rahmen der Implantationsvorsorge und -nachsorge für die CI-Zentren und Reha-Einrichtungen“.
„Das Recht auf Gebärdensprache in der Frühförderung möchte ich auch als Präsident der DCIG unterstützen“, sagte auch Roland Zeh. In Bezug auf die Forderung nach bilingualer Bildung stellte er aber auch in einer Wortmeldung die Frage: „Wie ist es mit dem Recht auf Hören?“ Eine echte Bilingualität, wie im Rahmen der Fachtagung mehrfach gefordert wurde, könne nur funktionieren, wenn sich auch der Hörkanal entwickle und die Kinder auch sprechen und hören könnten. Ulrike Gotthardt als Vertreterin des DGB fragte er deshalb: „Wie sieht es aus mit der Beratung? Sollen gehörlos geborene Kinder ein CI bekommen, damit sie auch auditiv gefördert werden können?“ Eine Positionierung in dieser Frage blieb aus und wurde mit dem Hinweis auf eine möglichst offene Beratung und die Entscheidungsfreiheit der Eltern knapp beantwortet.
Wie Zeh am Rande der Fachtagung zudem deutlich machte, ist ihm die Freiwilligkeit wichtig, sowohl in der Entscheidung für oder gegen ein CI als auch in der Frage der Nutzung von Gebärdensprachangeboten. Letztere sollten aber allen zugänglich sein. „Ich werde mich bemühen, dass das Angebot an gebärdensprachlicher Förderung mit in die Leitlinien reingeschrieben wird“, versprach der DCIG-Präsident, der als Patientenvertreter in der Kommission für die neuen AWMF-Leitlinien zur CI-Versorgung und Nachsorge sitzt.
Zweifelhafte Umfrage
Für Kritik im Vorfeld der Fachtagung hatte in den sozialen Netzwerken insbesondere eine Umfrage zur Lebenssituation von CI-Trägern des Deutschen Gehörlosen-Bundes gesorgt, deren„Validität dahingestellt“ sei, wie Ulrike Gotthardt vom DGB auf der Tagung selbst mehrfach betonte. Dabei wurde unter CI-Trägern unter anderem kritisiert, dass der DGB die CI-Selbsthilfeverbände nicht um eine Verbreitung der Umfrage gebeten hatte, um so auch lautsprachlich orientierte CI-Träger zu erreichen. Stattdessen war die Umfrage lediglich über die eigenen Kanäle verbreitet worden, denen vor allem gebärdensprachorientierte CI-Träger und Gehörlose folgen (Dies zeigte sich im Umfrageergebnis unter anderem bei der Frage nach den verwendeten Sprachen. Hier gaben von rund 620 Teilnehmern über 200 an, in Gebärdensprache zu kommunizieren).
Auch die technischen Bedingungen der Umfrage lassen einen wissenschaftlichen Anspruch nicht zu. So konnte ein und dieselbe Person über verschiedene Geräte mehrfach dieselben Fragen beantworten. Eine Überprüfung, ob die Teilnehmenden tatsächlich eigene CI-Erfahrungen haben, blieb ebenso aus. Auffällig war zudem, dass der DGB, obwohl 80 Prozent angaben, ihr CI regelmäßig zu tragen, und 85 Prozent der Befragten zufrieden (74 %) beziehungsweise teilweise zufrieden (11,5 %) mit ihren CIs sind, vor allem eine Antwort hervorhob: So heißt es in einer Pressemitteilung des DGB, die Umfrage habe aufgedeckt, dass „50 % von ihnen (den CI-Trägern; Anm. d. Red.) Mühe oder zum Teil große Schwierigkeiten haben, die Lautsprache gut zu verstehen“. Tatsächlich hatten in der Umfrage aber rund 53 Prozent der Befragten angegeben, Lautsprache sehr gut und ohne Probleme zu hören und zu verstehen, während weitere 32,5 Prozent diese Frage mit „teilweise“ und knapp 15 Prozent mit „nein“ beantworteten. Der Hinweis auf den nicht wissenschaftlichen Anspruch der Umfrage fehlte in der Pressemitteilung. Zufall? Ein Blick in das CI-Register in der Schweiz zeigt im Übrigen, dass 67,8 Prozent der CI-Kinder ohne Lippenlesen ein Sprachverstehen von 80 bis 100 Prozent erreichen (Stand 2016). Zudem gaben 74,7 Prozent aller Schweizer Implantierten an, einen ausgezeichneten bzw. guten Nutzen von der CI-Versorgung zu haben. Dieser Vergleich macht offensichtlich, wie wichtig eine objektive Datenbank ist, deren Ergebnisse auch veröffentlicht werden.
622 Teilnehmer wurden berücksichtigt. Ein wissenschaftlicher Anspruch wurde nicht erhoben. Dieser Hinweis aber fehlte in der Pressemitteilung.
Die Umfrage des DGB als auch die Vorträge der Fachtagung will der Deutsche Gehörlosen-Bund im kommenden Jahr in einem Booklet veröffentlichen. Dann werden auch die Zahlen der Umfrage detailliert nachzulesen sein. Zudem wurde die Fachtagung filmisch festgehalten. Eine Veröffentlichung der Videos sei ebenfalls geplant, erklärte Vogel. (ms)
Ergänzend dazu erklärte DCIG-Präsident Dr. Roland Zeh:
"Meine Position für die Frage nach einem CI bei taub geborenen Kindern ist aber trotzdem: Ich werbe dafür, dass alle taub geborenen Kinder ein CI bekommen sollten und dass dann eine Förderung einsetzt, die einen Lautspracherwerb ermöglicht. Sich in der hörenden Welt selbst verständigen zu können, entspricht einem höheren Grad an Autonomie, als immer auf Gebärdendolmetscher angewiesen zu sein. Wer will denn immer einen Dolmetscher dabei haben, vor allem im privaten Bereich, zum Beispiel bei Familienfeiern bei der (guthörenden) Oma oder bei einem privaten Date? Diese Möglichkeiten der lautsprachlichen Kommunikation soll meines Erachtens den taub geborenen Kindern nicht vorenthalten werden."
QUELLE:
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