1. Oktober 2024
Die Magie der Gemeinschaft
Die Blogwerkstatt „Deep Dive“ der DCIG führte 36 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in eine Welt fernab des alltäglichen Komforts. Thema: der Umgang mit den eigenen Ressourcen. Projektleiter Oliver Hupka berichtet über eine besondere Woche.
„Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann wärt ihr meine Familie.“ Diese Worte eines Teilnehmers in der Abschiedsrunde wirken auch heute noch bei mir nach. Sie machen mich glücklich und traurig zugleich. Wenn ich ergänze, dass diese Aussage von einem jungen Vater stammt, der zwei wundervolle Kinder und eine liebevolle Frau hat, könnte sie sogar schockieren oder zumindest verwirren – vor allem diejenigen, die nicht dabei waren und das Gesagte nicht einordnen können.
Es ist seit jeher schwierig, das spezielle Gefühl und diese Magie einer solch intensiven Woche mit Hörgeschädigten zu vermitteln. Ich habe es mir inzwischen abgewöhnt, meiner Frau nach meiner Heimkehr von den vergangenen Tagen zu berichten – und das sage ich ohne Reue und Vorwurf. Das war auch nach dieser letzten Blogwerkstatt vom 15. bis 22. Juni im österreichischen Baad nicht anders.
Eine Hütte ohne Strom und ohne fließend Wasser
Auf dem Programm stand dieses Mal ein Wildnis- und Erlebniscamp. Wir haben unter freiem Himmel geschlafen, mitten in der Natur, umgeben von Wölfen, Bären und Kühen – wobei wir glücklicherweise nur die letzteren tatsächlich gesehen und vor allem gehört haben. Ziemlich laut, dieses Klingeln der Glocken, vor allem dann, wenn man sein Hörsystem am nächsten Morgen frisch aktiviert und von der Stille zurück ins Hören kommt.
Man lernt schnell einen Rucksack zu packen, wenn man ihn anschließend mehrere Stunden tragen muss. Wenn er gleichzeitig das beinhaltet, was einem dort oben in den Bergen zur Verfügung steht, beginnt das Abwägen: Was brauche ich wirklich, worauf kann ich verzichten? Eine ziemliche Herausforderung, dabei sollten wir doch Profis im Umgang mit Ressourcen sein.
Profi im Umgang mit dem Selbst
Eine Hörschädigung begleitet Menschen trotz modernster Technik ein Leben lang. Ein gesundes Gehör ist durch nichts zu ersetzen. Die bleibenden Einschränkungen müssen Hörgeschädigte anderweitig kompensieren – und sie gelangen dabei oftmals an ihre Grenzen. Der Umgang mit diesen und anderen Grenzen, herausfinden, wo diese vielleicht überwindbar sind oder wo andere Wege gefunden werden müssen, ist eine elementare Fähigkeit, die bei dieser Blogwerkstatt auf unterschiedliche Weise erprobt und erfahren werden konnte. Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls durch das Erkennen, aktive Reflektieren und Überwinden dieser Grenzen sowie der bewusste Umgang mit den eigenen Ressourcen standen im Mittelpunkt der Woche.
Gemeinsam einsam
Ein Solo an der Murmeltierwiese. Die Aufgabe war recht einfach: Alleinsein mit der Natur. Im Bachbett oder auf einem Stein, die Sinne schärfen, meditieren, sich seiner Selbst bewusst sein. Üben im Beobachten, Riechen, Schmecken, Hören. Die Umsetzung war hingegen schwer. Eine Stunde kann lang sein und wir sind es gewohnt zum Smartphone zu greifen. Handy-Detox, diese Idee wurde schnell verworfen, nachdem sie im Vorfeld emotional diskutiert wurde. Wir müssen erreichbar bleiben, wir steuern unsere Hörsysteme damit, wir tragen High-Tech am Ohr.
Meine ursprüngliche Vision der diesjährigen Blogwerkstatt sah tatsächlich mehrere Tage und Nächte in der Wildnis vor, aber ich musste erkennen und mir selbst eingestehen: Wir sind abhängig von technischen Hilfsmitteln, wir brauchen Strom.
Unterstützung und Sicherheit
Diplom-Pädagoge und Mediator Andreas Beier, begleitet von der Wildnispädagogin Judith Gutbrod, führte die Gruppe durch die Woche. Beier hat bereits viele Menschen und Gruppen in Coachings und Teamprozessen begleitet und auch langjährige Seminarerfahrung mit Menschen mit Cochlea-Implantat. Er ist jemand, der mit Achtsamkeit und Ernsthaftigkeit, mit Tiefgründigkeit und Humor dabei hilft, Konflikte zu lösen, Eingefahrenes zu verändern, sich und andere besser zu verstehen. Seine Aufforderung, unsere Komfortzone zu verlassen, führte zu Ängsten und er begleitete uns dabei, sich diesen zu stellen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Gutbrod sorgte derweil dafür, dass wir uns sicher fühlen konnten – trotz Grenzerfahrung.
Unvorstellbar erschien es zunächst, den tosenden Fluss Breitach trocken zu überqueren oder ein Glas unbeschadet vom obersten Stockwerk unserer Unterkunft fallen zu lassen. Die uns dabei zur Verfügung stehenden Materialen? Alles, was uns die Natur bietet.
Euphorie wich Ernüchterung, wenn es anstrengend wurde. Zweifel und Diskussionen, über die Machbarkeit der gestellten Aufgaben. Umso größer die Ausschüttung der Glückshormone, wenn Ziele gemeinsam erreicht wurden.
Der rote Faden
In der Auseinandersetzung mit Grenzen und begrenzten Ressourcen sind Konflikte selbstverständlich und bieten als solches ein Lernpotenzial, das wiederum bei guter Bearbeitung dem Einzelnen für sein Handeln im alltäglichen Umfeld und mit seiner Hörschädigung hilft.
Vor allem schweißen solche Erfahrungen die Gruppe zusammen. Es entsteht ein Wir-Gefühl und ein Verständnis für- und untereinander, wie es selbst unter Familienangehörigen nicht immer der Fall ist und das unheimlich stärkt. Auch mich. Selbst nach bald zehn Jahren – 2026 feiern wir unser großes Jubiläum – nehme ich jedes Mal wieder neue magische Momente mit nach Hause.
Oliver Hupka
Vizepräsident und Initiator der DCIG Blogwerkstatt, sowie der jungen DCIG-Selbsthilfe Deaf Ohr Alive
Fotos: Oliver Faulstich und Christophe Guerry
Die DCIG dankt der DAK für die Förderung der Blogwerkstatt Deep Dive.
Neugierig geworden? Vom 4. bis 9. Mai 2025 geht es zur Blogwerkstatt nach Possenhofen am Starnberger See, das Motto: Perspektivenwechsel. Außerdem planen wir bereits für das große Blogwerkstatt-Jubiläum 2026, wenn es dann heißt: 10 Jahre Deaf Ohr Alive. Wir freuen uns auf viele neue und bekannte Gesichter.
deaf-ohr-alive.de
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