9. Februar 2022
Notfall-Fax-Erfinder Klaus Büdenbender freut sich über die Nora-App
Hör- und sprachgeschädigte Menschen stoßen oft an ihre Grenzen, wenn sie mit einem regulären Telefon einen Notruf absetzen wollen. Grenzen, die Klaus Büdenbender seit mehr als 20 Jahren versucht zu überwinden. Zuerst hat er maßgeblich geholfen, dass Rettungsleitstellen mit einem standardisierten Telefax-Vordruck erreicht werden können. Vor einigen Monaten wurde Nora, die Notruf-App fürs Smartphone gestartet, bei deren Entwicklung seine Expertise erneut gefragt war. Klaus Martin Höfer hat mit Klaus Büdenbender gesprochen.
Herr Büdenbender, in 20 Jahren Lobby-Arbeit gab es zunächst den Notfallfax und nun gibt es die Nora-App. Beschreiben Sie doch mal, wie Sie sich persönlich fühlen nach diesem langen Weg.
Klaus Büdenbender: Der Weg war in der Tat sehr lang. Dass ich das nicht alleine schaffen würde, war mir von Anfang an bewusst. Einen wichtigen Mitstreiter hatte ich mit Carsten Ruhe, dem ehemaligen Leiter des Referates „Barrierefreies Planen und Bauen“ beim Deutschen Schwerhörigenbund und auch bei politischen Entscheidungsträgern, der Feuerwehr, der Polizei und den Rettungsdiensten. Unser Bemühen war nicht immer einfach, teilweise war es auch zermürbend, zeitraubend und nicht selten mit privaten Kosten verbunden. Aber am Schluss hat es sich gelohnt! Die Notruf-App ist endlich da! Und zugegeben, ja, ich bin auch ein wenig stolz darauf, ein kleines Zahnrädchen in diesem großen Getriebe zu sein.
Notrufe von überall möglich
Wo sehen Sie Verbesserungen der Nora-App gegenüber den bisherigen Möglichkeiten?
Vor der Nora-App gab es für hör- und sprachgeschädigte Menschen keine Möglichkeit, einen Notruf von überall her abzusetzen. Der Notfall-Telefax auf Papier als Alternative zum Telefon hat den Nachteil, dass er nur stationär nutzbar ist.
Die Nora-App auf dem Handy ist mobil. Jetzt können Hör- und sprachgeschädigte Menschen Notrufe absetzen, wo auch immer sie sind. Nachdem sie sich vorher angemeldet und registriert haben, stehen mit der Nora-App dann den Rettungsleitstellen beim eigentlichen Notfall bereits wichtige Informationen zu dem oder der Anrufenden zu Verfügung. Damit wird viel Zeit gespart.
"Einfache Registrierung, einfache Handhabung"
Was mir an der Nora-App gut gefällt, ist die einfache Registrierung, eine einfache Handhabung und die Möglichkeit des „stillen Notrufs“. Die Ortung per GPS funktioniert aus meiner Sicht sehr gut, und wenn sie daneben liegt, hat man noch die Möglichkeit der manuellen Standorteingabe, was, zugegeben, in einer Stresssituation unter Umständen schwierig werden könnte.
Besonders wichtig für mich als Hörgeschädigten finde ich die Möglichkeit, mit der Leitstelle per Chat kommunizieren zu können, wenn das erforderlich sein sollte.
Sehr gut und auch zwingend notwendig ist der Demonstrationsmodus. Ist die App auf "Demo" gestellt, kann man sich ausgiebig mit der App beschäftigen kann, ohne dass man Angst haben muss, dass wenig später der Notarzt oder die Feuerwehr vor der Tür steht. Nora-Nutzer sollten die App unbedingt erst im Demo-Modus ausprobieren und damit üben.
Die Hinterlegung meiner persönlichen und medizinischen Daten empfinde ich als angemessen, notwendig und sinnvoll.
Verbesserungsvorschlag: Warnhinweise von CI-Trägern einbinden
Sind Sie zufrieden mit dem, was die Nora App kann?
Als CI-Träger vermisse ich die Möglichkeit, in der App darauf hinzuweisen, dass man bei mir keine MRT-Untersuchung machen darf bzw. nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Habe ich einen schweren Unfall und mir fliegen die CIs vom Kopf, ist für die Hilfskräfte überhaupt nicht ersichtlich, dass sie einen CI-Träger vor sich haben. Und auch der Notarzt kann das nicht wissen oder erkennen. Der schickt mich dann in die Röhre und mir werden im schlimmsten Fall die CI-Magnete im Schädel verschoben. So wird der Schaden noch größer. Das möchten wir natürlich nicht.
Dann liegt mir ganz persönlich noch eine kontinuierliche Standortübermittlung sehr am Herzen. Da hat zwar die Feuerwehr nichts von, aber die Polizei. Es gibt genügend Beispiele, wo sie von Nutzen sein könnte. Der Gedanke, diese Möglichkeit in die App zu integrieren, ist wohl nicht völlig vom Tisch, aber es gibt noch viel Gesprächsstoff und Klärungsbedarf.
Aufklärung: "Hörgeschädigtenverbände in der Pflicht"
Und wie geht es künftig weiter? Das hängt sicher auch von uns Betroffenen ab, ob und wie wir "Nora" so akzeptieren, wie die App aktuell angeboten wird. Ganz wichtig ist es deshalb, die Vorteile zu kommunizieren und Aufklärungsarbeit zu leisten. Dabei sehe ich insbesondere die Hörgeschädigtenverbände in der Pflicht. Ausgereizt ist die App sicher noch nicht. Es sind auch längst noch nicht alle Behindertengruppen angemessen berücksichtigt. Aber es wird weitergehen!
Videoanrufe noch nicht möglich
In anderen Ländern gibt es die Möglichkeit, bei den Rettungsleitstellen Videoanrufe abzusetzen. In Deutschland geht das noch nicht. Ist das der nächste Schritt?
In Kreisen der Gehörlosengemeinschaft wird tatsächlich bemängelt, dass die App ohne Videochat keine „richtige Barrierefreiheit“ erreiche. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Es gibt wohl Überlegungen, die Nora-App mit dem Angebot der Tess Relay-Dienste zu verknüpfen, über die ein Video- oder Schriftdolmetschdienst gebucht werden kann. Wie genau man das machen kann, wann es soweit ist und welche technischen und bürokratischen Hürden hier zu überwinden sind, wird man abzuklären haben. In den Rettungsleitstellen selbst arbeiten jedenfalls kaum Disponenten, die die Deutsche Gebärdensprache beherrschen.
Alleinstellungsmerkmal der Nora-App: Kommunikation mit der Leitstelle
Es gibt auch andere Apps, die einen ähnlichen Anspruch haben. Was halten Sie von denen?
Diese Frage ist ein ganz heißes Eisen. Da kann man schnell zwischen die Fronten geraten, wie ich schon selber erfahren musste. Niemand behauptet, dass die alternativen Apps nichts taugen. Der Knackpunkt ist aber aus meiner Sicht, dass Notrufe mit diesen Apps nur als Mail oder Telefax in den Leitstellen ankommen und eine Kommunikation mit den Disponenten daher nicht möglich ist. Zudem, so sagen es die Verantwortlichen, entsprechen diese Apps nicht den Vorgaben im Telekommunikationsgesetz und etlichen anderen Vorschriften und Verordnungen. Unser Bestreben aber war es immer, dass sowohl das Notfall-Telefax als auch die Notruf-App in Einklang mit dem Gesetz stehen und als gleichberechtigte Notrufmöglichkeit erscheinen sollten. Die Nora-App ist aus meiner Sicht die einzige App, die diesem Anspruch gerecht wird.
Aus meiner persönlichen Sicht gibt es aktuell keine bessere Notrufmöglichkeit für hör- und sprachgeschädigte Menschen, auch unabhängig davon, ob sie vielleicht doch noch telefonieren könnten. Wir können immer in eine Situation kommen, in der wir eben keinen telefonischen Notruf mehr absetzen können. Dann haben wir aber immer noch die Nora-App. Von daher ist meine Empfehlung, dass auch Menschen ohne Hör- und Sprachschädigung sich die Nora-App herunterzuladen, sie installieren und sich registrieren.
Dieser Text erscheint in der Schnecke 115.
Die Nora-App wurde Ende September 2021 in Betrieb genommen. Bis zum 30. Januar 2022 haben sich 163 000 Nutzer registriert. Sie haben in dem Zeitraum 47 000 Demonstrationsnotrufe und knapp 6000 echte Notrufe abgesetzt. |
290 Leitstellen nehmen die Notrufe in Deutschland entgegen, davon 226 Leitstellen von Feuerwehr und Rettungsdienst und 64 Leitstellen der Polizei. Nach Auskunft des für die Einführung der Nora-App federführenden nordrhein-westfälischen Innenministeriums arbeiten die Leitstellen daran, die Nora-App "noch besser" in ihren Ablauf zu integrieren. |
Quelle: Innenministerium NRW
Lautstark Talk zum Tag des europäischen Notrufs
Im Lautstark-Talk am 11. Februar, dem Tag des Notrufs, ist die Nora-App ebenfalls Thema gewesen. DCIG-Geschäftsführerin Ulrike Berger hat dazu Gesprächsgäste aus dem nordrhein-westfälischen Innenministerium. Dort wird die App federführend für alle Bundesländer koordiniert.
Erklärvideo zur Nora-App
Weitere Infos gibt es in diesem Video über die Nora-App, das auf dem Videoportal "vimeo" abrufbar ist.
Zurück