OTC-Hörgeräte – Hörhilfen ohne Rezept und Akustiker
Over-the-Counter-Hörgeräte (OTC-Hörgeräte) sind Hörsysteme, die ohne ärztliche Verordnung oder dem Gang zum Akustiker direkt von Verbrauchern gekauft und selbst angepasst werden können. Derzeit wird über Nutzen und Gefahren intensiv diskutiert.
Hersteller von Consumer-Electronic drängen in den Markt
OTC-Hörgeräte sind für Erwachsene mit leichtem bis mittlerem Hörverlust entwickelt worden. Sie sollen insbesondere den Zugang zur Hörversorgung vereinfachen. Im Gegensatz zu klassischen, individuell durch Hörakustiker angepassten Hörgeräten, handelt es sich bei OTC-Systemen um standardisierte, meist app-basierte Lösungen.
Vom Kopfhörer zum Hörgerät
Eine zentrale Entwicklung im Markt für Hörhilfen ist das Verschwimmen der Grenze zwischen klassischen Kopfhörern und medizinisch zertifizierten Hörgeräten. Besonders Apple und Samsung gehen neue Wege: Die Unternehmen bietet Premium-Kopfhörer, die auch zur Hörverstärkung genutzt werden können.
Apple hat 2024 eine von der FDA zugelassene Hörgerätesoftware für die AirPods Pro 2 vorgestellt. Diese ermöglicht es, ein personalisiertes Hörprofil über die Health-App auf iOS einzurichten. Damit wird ein Massenprodukt mit Millionen von Nutzern potenziell zu einer Hörhilfe.
Samsung verfolgt einen ähnlichen Weg: Die Galaxy Buds2 Pro verfügen über eine „Ambient Sound“-Funktion. Eine gemeinsam mit dem Samsung Medical Center veröffentlichte Studie belegt, dass diese Funktion Menschen mit leichtem bis mittlerem Hörverlust helfen kann, Gespräche besser zu verstehen.
Auch wenn die Galaxy Buds2 Pro oder Air Pods nicht als OTC-Hörgeräte zugelassen sind, markieren solche Produkte eine relevante Schnittstelle zwischen Consumer-Technologie und Hörversorgung.
Einfache Selbstanpassung – kein vollständiger Ersatz
Die Funktionsweise aktueller OTC-Hörgeräte basiert häufig auf digitalen Self-Fitting-Technologien. Nutzer führen einen Hörtest über eine Hersteller-App durch, woraufhin ein personalisiertes Hörprofil erstellt und übertragen wird.
Sony hat mit dem Modell CRE-C10 in Zusammenarbeit mit WS Audiology ein In-Ohr-System auf den Markt gebracht, das über die Sony | Hearing Control App gesteuert wird. Die Geräte wurden für Erwachsene mit leichtem bis mittlerem Hörverlust entwickelt und sind deutlich günstiger als herkömmliche Hörgeräte. Die Einführung in den US-Markt erfolgte im Oktober 2022. In der Kooperationen kombiniert Sony die Expertise für Audio und Miniaturisierung mit WSAs audiologischer Kompetenz. Es war einer der ersten größeren industriellen Markteinstiege im OTC-Bereich und ist eine logische Konsequenz der Situation.
Denn nach einer vom DSB veröffentlichten Statistik ist fast jeder fünfte in Mensch in Deutschland über 14 Jahren schwerhörig Wissenschaftliche Studien belegen, dass ein unbehandelter Hörverlust mit signifikanten Einbußen der kognitiven Leistung verbunden ist.
Eine Umfrage unter 730 Hörakustikern und HNO-Experten (veröffentlicht in Audiology Research, MDPI, 2023) zeigt jedoch Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und der Beratungskompetenz im Zusammenhang mit OTC-Systemen. Technisch funktioniert Self-Fitting mittlerweile präzise, doch die persönliche Beratung durch Fachpersonal ist nicht vollständig zu ersetzen.
Nutzen und Grenzen von und für OTC-Hörhilfen
Bei einer so enormen Zahl von (leicht) schwerhörigen Menschen ist der Bedarf an niederschwelligen Hörhilfen ist hoch. Millionen Menschen mit leichter bis mittlerer Hörminderung verzichten auf klassische Hörgeräte – oft aus Kosten-, Komfort- oder Stigmatisierungsgründen. OTC-Hörgeräte können eine Alternative mit geringerer Einstiegshürde bieten.
Zudem treffen diese Geräte auf einen wachsenden Markt: Die demografische Entwicklung, verbunden mit der Digitalisierung und dem Aufstieg smarter Wearables, fördert das Interesse an flexiblen Lösungen für die Hörgesundheit.
Arzt und Akustiker sind nicht zu ersetzen
Allerdings können OTC-Hörgeräte, hörvestärkende Earbuds oder andere Hörhilfen kein Ersatz für den Besuch beim Facharzt oder Akustiker sein. Die Geräte sind weder für Kinder, noch für Menschen mit schwerem oder komplexen Hörverlust geeignet. Tatsächlich besteht das Risiko, dass ernsthafte Erkrankungen nicht diagnostiziert werden.
Mögliche Folgen für das Versorgungssystem
Das ändert aber nichts daran, dass die Einführung von OTC-Hörgeräten die Struktur der Hörversorgung verändern kann. Der Hörakustiker muss sich stärker zum Berater, Nachversorger und Qualitätssicherer entwickeln. Verbände wie der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) weisen darauf hin, dass OTC-Hörgeräte keineswegs die Bedarfe aller Betroffenen abdecken können. Der Ruf nach klaren Qualitätsstandards, Information und Aufklärung wird lauter. Der Deutsche Hörverband (DHV) veranstaltet zu dem Thema Ende April einen kostenlosen Online-Dialog, der DSB setzt sich Mitte Mai in einem Strategie-Workshop intensiv mit dem Thema auseinander.
Aus regulatorischer Sicht bleibt Europa hinter den USA zurück. Während die FDA bereits 2022 OTC-Hörgeräte zugelassen hat, fehlt eine vergleichbare Regelung auf EU-Ebene. Eine offizielle Einordnung in die medizinprodukterechtlichen Rahmenbedingungen ist notwendig, um Rechtssicherheit für Anbieter und Anwender zu schaffen.
Rechtliche Regelung seit 2022 in den USA
Die rechtliche Grundlage wurde 2017 mit dem OTC Hearing Aid Act in den USA geschaffen. Im August 2022 verabschiedete die FDA die gültige Regelung. Auf dem Markt gibt es inzwischen zahlreiche Produkte, nicht nur von Sony und Sennheiser. Auch Anbieter wie Jabra (Enhance Select), Lexie (in Kooperation mit Bose) oder Eargo (unsichtbare In-Ear-Geräte) haben sich auf dem US-Markt mit unterschiedlichen OTC-Modellen positioniert. Mit der FDA-Zulassung einer Hörgeräte-Software, die auf den AirPods Pro 2 läuft, wurde 2024 ein Meilenstein erreicht.
Wo sind OTC-Hörgeräte verfügbar?
Spätestens mit dem Apple-Produkt schwappte das Interesse nach Deutschland und entfachte die Diskussion. Derzeit sind OTC-Hörgeräte aber vorrangig in den USA erhältlich. Sie werden dort online, in Apotheken und bei Elektronikhändlern angeboten.
In Europa fehlt bislang ein harmonisierter regulatorischer Rahmen. Import und Nutzung sind prinzipiell möglich, doch die rechtliche Einordnung bleibt unsicher. Das dürfte sich auf Sicht ändern, wenn europäische Normierungs- und Gesundheitsbehörden reagieren.
Markus Rinke
- Anmeldung zum Online-Dialog des DHV 28.04. (Link zu Seite)
- Anmeldung zum Strategie-Workshop des DSB 09.05. – 11.05. (Link zu Seite)
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